Dieser Artikel beruht auf einem Redebeitrag der Autorin im Rahmen der Konferenz „Forschung im Theater für junges Publikum“ in Hamburg im November 2022.
Was brauchen wir, um Kindern und Jugendlichen einen Zugang zum Theater zu ermöglichen? Wie verändert Forschung unsere Strukturen und Ressourcen, welchem Arbeitsverständnis und welcher Selbstverortung entspringt sie?
Grundsätzliche Ausrichtung sowie gesellschaftlicher Auftrag von Theatern für junges Publikum ist gemeinhin die Gestaltung eines Programms, eines Spielplans, das dem Zielpublikum den Vorstellungsbesuch von Inszenierungen, mittlerweile auch häufig in einer Rahmung von theaterpädagogischer Begleitung ermöglicht. Der Ansatz, Forschung im Kinder- und Jugendtheater zu betreiben, geht weit darüber hinaus; er verändert Inhalte, Kommunikationsformen, Verständnisse von künstlerischer Produktion und Rezeption und folglich die Bedarfe und Ressourcen in den Strukturen von Theaterhäusern. Er spiegelt eine andere Verortung dieser Orte in ihrem Umfeld wider. Auch wenn das Forschungstheater Hamburg dasForschen allerzum Programm gemacht hat, an vielen anderen Orten gemeinsam geforscht und partizipativ Kunst gemacht wird, sind die strukturellen Voraussetzungen für diese Arbeit zu wenig bekannt, noch gibt es ausreichende Förder- und Finanzierungsmöglichkeiten, die Voraussetzung sind, um diese Arbeit machen zu können.
Im folgenden Beitrag sind hierzu Aspekte aus der Sicht eines Theaters für junges Publikum, dem FELD-Theater in Berlin, wie aus meiner eigenen künstlerisch-forschenden Praxis stichwortartig zusammengetragen. Sie münden in je abgeleitete Forderungen für die Arbeitspraxis, verknüpft mit der Hoffnung, dass sie in naher Zukunft Umsetzungsmöglichkeiten finden werden.
Sie bilden eine erste Wunschliste, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und dem weiteren Diskurs über Forschung im Kinder-und Jugendtheater dienlich sein soll; sie kann zukünftig differenziert und erweitert werden.
JETZT
Räume
Forschendes Theater geht aus der Black Box eines Theaterhauses hinaus, hinein in die Nachbarschaft, in Schulen, in Kitas, in Senior*innenheime, die Jugendzentren, Stadtteilcafés usw. Künstler*innen suchen Menschen unterschiedlichsten Alters an den Orten auf, an denen sie leben. Forschendes Theater öffnet die Theater, vernetzt sie, bringt sie mit Menschen in Kontakt, die in ihrem Alltag vielleicht wenig an Kunst und Kultur teilhaben. Manchmal, aber nicht immer, kommen sie wieder zurück in das Theater.
→ Es braucht Orte außerhalb der Theater, an denen diese Arbeit verankert werden kann. Wir brauchen Räume als Orte für Versammlung.
Zeit
Forschendes Theater zielt nicht allein auf die Produktion von Stücken, die geprobt und aufgeführt werden im Sinne einer Spielplanlogik. Die Arbeit ist vielmehr am Prozess orientiert, an dem gemeinsamen Austausch von Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Expert*innen des Alltags, der Zeit braucht, um etabliert und durchgeführt werden zu können. Forschende Praxis verweigert sich einer Verwertungslogik, vertraut auf die Prozesse und deren Entwicklung mit offenem Ausgang bzw. einem (vorläufigen) Ergebnis, das wieder zu einer neuen Frage führen kann.
→ Es braucht auf der Ebene der Öffentlichkeitsarbeit Mittel und Methoden, die diese Prozesse sichtbar machen. Dafür benötigt es Fördertools, die weggehen vom Projekt-Hopping und Produktionslogik hin zu einem umfassenderen Verständnis des künstlerischen und forschenden Arbeitens mit Kindern, das auf Nachhaltigkeit und der Verwebung von Prozess und Produktion von künstlerischer Arbeit zielt.
Wissen, Kompetenzen und Ressourcen
Im Forschenden Theater wird nicht lediglich ein Produkt vom Besucherservice an die Konsumenten verkauft oder von Theaterpädagog*innen in Vor- und Nachbereitungen erläutert. Vielmehr müssen Kontakte zum Umfeld koordiniert, gepflegt, aufrechterhalten und immer wieder neu verhandelt werden. Das setzt im hohen Maße Kenntnisse über die diversen Zusammensetzungen unserer Gesellschaft voraus wie auch kommunikative Grundfähigkeiten und fachliches Wissen über das Arbeiten im ’nicht-künstlerischen Umfeld‘ außerhalb der Theater.
→ Es braucht eine grundlegend andere, den Bedarfen angemessene personelle Ausstattung. Es benötigt entschieden eine größere Offenheit in den Ausbildungskonzepten, die den Nachwuchs dazu befähigt, in diesem Arbeitsfeld agieren zu können.
GRUNDLEGEND
Kulturpolitik
Es braucht völlig andere Budgets für unsere Arbeit. Forschen im Kinder- und Jugendtheater ist wie auch die künstlerische Arbeit in diesem Feld Arbeit. Sie sollte als solche anerkannt und fair bezahlt werden.
Es braucht ein kulturpolitisches Verständnis für die Komplexität unserer Arbeit sowie deren Anerkennung und Unterstützung.
Gerade hierfür benötigt es eine qualitative Forschung, die forschende Arbeit befragt, die ihr Potential darlegt, ihre Mängel begutachtet und darüber hinaus impulsgebender Bestandteil der Weiterentwicklung forschender Praxis wird.
ZUKUNFT
Aus- und Aufbau von Methodiken und Themen
Forschende Praxis ist transdisziplinär. Für die weitere Entwicklung der Forschung im Kinder- und Jugendtheater brauchen wir:
eine verstärkte Öffnung hin zu anderen künstlerischen Disziplinen und den Austausch mit Kolleg*innen. Insbesondere im Tanz sind andere forschende Ansätze entstanden. Sie ermöglichen die Reflexion von anderen Wissensformen und deren Generierung wie von Praktiken wie z.B. Community Dance/Community Building.
eine verstärkte Begegnung und Auseinandersetzung mit Kolleg*innen, deren Perspektiven z.B. aufgrund einer Behinderung oder von Alter marginalisiert sind. Die Auseinandersetzung mit Inklusion und Equity muss eine (größere) Rolle in der weiteren Entwicklung von Forschung spielen.
Es gilt Plätze frei zu machen sowie Deutungshoheit und Macht abzugeben; genau das kann gemeinsame forschende Praxis.
Zum Netzwerk Forschung im Kinder- und Jugendtheater: Hier
Das Recht von Kindern auf Kunst und Teilhabe ist UN-verbrieft. Im deutschen Theater für junges Publikum ist allerdings erst spät angekommen, dass sie zur aktiven Beteiligung von Anfang an auch fähig sind. Prägend dafür waren Produktionen aus westeuropäischen Ländern wie Belgien, Frankreich, Benelux oder Dänemark. Ihr Geheimnis: Vertrauen.
Seit Wochen weiß ich, dass ich eingeladen bin, beim AGORA Theater in St. Vith etwas zur Frage ‚in welcher Welt will ich leben?‘ zu sagen. Inspiration geben, Anregungen für einen super Austausch zwischen Generationen. Nichts lieber als das? Worüber denke ich nach, wenn nicht genau über dieses Thema?! Wochenlang lade ich einen Text nach dem anderen aus dem Netz herunter. Recherche! Texte über Europa, über Trump, über den Brexit, über Flutkatastrophen – die Nachrichten in meinem digitalen Ordner quillen über – Jede Sekunde werden 14 Stunden Videomaterial auf Youtube hochgeladen. Nur auf Youtube. Nicht zu denken was das für das ganze Netz heißt…
Auf Youtube singt Kate Tempest ‚Europe is lost‘. Ich schwelge in ihrer Lyrik und bewundere die junge Rapperin für ihre Emotionalität. Ann Marei Kantereit tönt mit KIZ ‚Hurra, diese Welt geht unter:‘ und ich komme mir vor wie eine Nussschale auf hoher See.
Seit Wochen verfolge ich Nachrichten aus meinem Kiez, aus Berlin, Europa und möglichst noch ein bissen mehr über den Tellerrand. Seit Wochen fällt mir von Tag zu Tag ein neuer Anfang ein, wie ich also starte mit meinem inspirierenden Vortrag: Am Tag, an dem geknüppelt wurde in Barcelona, wurde mir klar… oder: An dem Tag, an dem Irma ihr Unwesen trieb, …. oder: An dem Tag, an dem die Rechten in den Bundestag gewählt wurden, …. usw. usw. usw. Man verliert den Anfang. Zwischendrin denke ich an eine Krankenstation. Vielleicht sind performative Aktionen klarer in ihrem Zugriff. Wirkungsvoller?
In meiner Fantasie füllt sich eine Krankenstation mit all diesen Menschen, den Nöten und dem Globus und ich überlege wie ich denn da noch ein Setting draus gestalten könnte ….
In meiner Fantasie schlagen die Wellen höher und ich drohe in meiner Nussschale in ihnen unterzugehen. Sowohl mit meinem völlig inspirierten und inspirierenden Vortrag wie auch ich mit mir selbst. Ich schwimme auf hoher See umgeben von Krisen und Untergangszenarien. Warum sollte gerade ich diese Frage beantworten können? Ich schlage den Laptop zu.
MEINE TOCHTER kommt in mein Arbeitszimmer und meint, sie würde bei der Frage ‚In welcher Welt will ich leben?‘ wohl die Figur der Worldlady einnehmen wollen. Warum? Frage ich. Naja, die wünsche sich doch dann immer den Weltfrieden, keinen Hunger mehr auf der ganzen Welt usw. Ehrenwerte Wünsche, ja – sage ich, aber ein bisschen dünn für einen Vortrag, oder? Sie kichert. Wir lachen.
Meine Tochter ist Anfang 20, sie lernt bei einem Tierarzt und will erst mal Tiermedizinische Fachangestellte werden und dann weiterschauen. Ich denke nach. Über diese Antwort, die meine Tochter zur Hand hatte und ich denke, genau darum kann es ja nicht gehen. Nicht dass ich mir den Weltfrieden nicht wünschte … das wäre einfach zu einfach.
Einfache Antworten sind derzeit leider häufig viel zu schnell zur Hand. Nach den Bundestagswahlen vor drei Wochen fragen sich viele jetzt: Wie könnte es soweit kommen? Wie konnte es dazu kommen, dass ‚wir‘ unsere Demokratie nun in Gefahr sehen? Anhaltspunkte werden in der sich schnell entwickelten Globalisierung gesehen, die durch ihren Highspeed Menschen entwurzelt und uns alle zu ‚Inhabitants of the Global City macht. Der Einzelne werde abgehängt, die Gesellschaft entsolidarisiere sich zunehmend. Folglich suchen Menschen wieder das Verbindende, eine Identität – sie finden ein Volk, eine Nation, Definitionen durch Abgrenzung. Dort wo der Dialog, das Miteinandersprechen aufhört, führt Abgrenzung zu Gewalt. Immerschon. Gerade weil wir zurzeit erleben, dass einfache Antworten leider häufig viel zu schnell zur Hand sind, denke ich zunehmend über das Antworten selbst und Antworten nach.
AUF DIE SUCHE GEHEN – es gibt keine einfachen Antworten 2: Vom Aushalten des Ungewissen.
Ich geh auf die Suche. Die Frage, in welcher Welt möchte ich leben, ist immer auch eine nach Zukunft. Wie stelle ich mir eine Welt in Zukunft vor? Was ist da und sollte sich in Zukunft ändern? Wie wünsche ich mir die Zukunft? Auf der Suche, ob es Prognosen gibt, Annahmen wie sich die Zukunft entwickeln wird, stöbere ich in meinen Unterlagen und finde einen Artikel über Berufe, die es vor 10 Jahren noch nicht gegeben hat. Ich lese u.a., dass 65% der Kinder, die heute eingeschult werden, im Laufe ihres Lebens Berufe ergreifen werden, die wir heute noch nicht auf dem Radar haben. Wir leben gerade in einer Zeit einer rasanten weltweiten Veränderung, einer weltweiten Transformation. Der Dramaturg Ulf Schmidt spricht von DiGITAL NAISSANCE. Einer Revolution der Wirthschaft, der Arbeitswelt, des Geldes, der Politik und des Zugangs zum Wissen und zur Kultur: „Wir leben in einer Naissance und zwar in der digitalen Naissance, die sich vollzieht, ohne dass sie bewusst betrieben oder durch gesellschaftliche Ideale projektiert würde.“ „Wir leben in einem revolutionären Umbruch ohne revolutionäres Subjekt, ohne revolutionäres Konzept, ohne revolutionäre Utopie. Wir wissen nicht, ob wir uns auf dem Marsch der Lemminge befinden, oder auf dem Zug ins gelobte Land.“
Wenn wir die Frage nach der Zukunft stellen, so müssen wir gestehen, dass wir nicht wissen wie genau Zukunft aussieht.
Natürlich muss man gute und wichtige Fragen stellen, gerade weil wir zurzeit erleben, dass einfache Antworten leider häufig viel zu schnell zur Hand sind. Aber es könnte eben sein, dass es nicht auf alles Antworten gibt, auch dass wir nicht wissen wie genau Zukunft aussieht. und dass man das nicht-sofort-Beantworten-Können aushalten muss. Die Frage nach Zukunft kann ich meiner Tochter nicht beantworten; ich muss da den mir vorgesehenen Platz als Ältere und daher Wissende aufgeben. Die Frage nach Zukunft stellt sich für meine Tochter zudem auch ganz anders als für mich. Sie ist einfach jünger als ich. Ich bin halt mein Alter, das ich bin.
Aber: Wir sitzen auch im gleichen Boot: Wir wissen beide nicht, wie die Zukunft aussehen wird.
VOM FRAGEN UND NICHT-ANTWORTEN: ein Gemisch.
Statt schnelle Antworten zu generieren erscheint es mir vielmehr viel wichtiger, ins Gespräch zu gehen, einanderzuzuhören, sein Nicht-Wissen zu teilen, sich auszutauschen und sich Zeit zu lassen, nachdenklich zu sein, zu hinterfragen.
Die Fähigkeit zu hinterfragen, kann auch eine Stärke sein. Statt immer schnellere Lösungen von alt bekannten Fragen zu generieren erscheint es mir wichtig, auch die Fragen zu hinterfragen und auch neue zu entwickeln. Etwas Neues, Zukünftiges – eine nächste Gesellschaft entsteht sogesehen durch eine kreative Veränderung des Gemisches aus Fragen und Antworten.
AUF DIE SUCHE GEHEN – Es gibt keine einfachen Fragen 1: Aus ‚In welcher Welt will ich leben?‘ wird ‚In welcher Gesellschaft will ich leben?‘
Ich geh also weiter auf die Suche und hinterfrage die Frage: In welcher Welt möchte ich leben? Sie ist so allumfassend. Wer oder was ist die Welt? Wer Ich? Und was meint denn ‚leben‘, … möchte ich leben?‘
Ich habe keine Antworten und nun kommt die nächste Überraschung: Ich habe auch keine Mega-Fragestellungen, ich möchte vielmehr zwei Gedankengänge teilen. Zwei Gedankengänge, die aus Gesprächen mit zwei Menschen entstanden sind, denen ich denen ich in letzter Zeit gern zugehört habe, da sie mein eigenes Denken hinterfragen, mich herausfordern:
SANYA LINDFORS – oder wie ich anfing zu verstehen was Rassismus bedeutet.
CAROLIN EMCKE – und wie ich anfing zu verstehen was eine Mehrheit ausmacht.
„Eine machtvolle Mehrheit im Sinne von Baldwin ist nichts, was man besitzt, sondern etwas, das man immer wieder sprechend und handelnd herstellen muss.“
Auszug aus einem Vortrag beim AGORA THEATER in St. Vith (Belgien).
Der zeitgenössische junge Tanz ist ein sehr junges Phänomen in Deutschland. War er bislang eher eine Randerscheinung in der Landschaft der darstellenden Künste, so entfaltet er sich derzeit rasch. Indikatoren hierfür sind die Veränderungen der Festi- vallandschaft in den letzten fünf Jahren: Im Jahr 2016 präsentierte das Internationale Tanz- und Performance-Festival für junges Publikum Think Big in München bereits seine fünfte Ausgabe, es gab erstmalig das Festival Zig Zag- Neuer Tanz für junges Publikum in Potsdam und Auf dem Sprung – Junger Tanz im Dialog in Aachen. In Berlin bringen die Berliner Festspiele beim Tanztreffen der Jugend seit 2014 jährlich eine Woche lang sieben Tanzgruppen aus Deutschland zusammen. Diese Veranstaltungen sind gegenwärtig Ergebnis einer lebendigen Tanzszene, die im Aufbruch ist, den Jungen Tanz zu entdecken.
Choreograf_innen und Tänzer_innen in Deutschland arbeiten zumeist freischaffend in oft wechselnden Konstellationen, verschiedenen Projekten, mal als Einzelkünstler_innen, mal in längerfristigen Liaisons. Um produzieren, experimentieren, die eigene künstlerische Handschrift und den zeitgenössischen Tanz (weiter-)entwickeln zu kön- nen, brauchen Künstler_innen Orte und Räume, Partner und Projekte.
ENTWICKLUNGSMOTOR: PROJEKTE
Ein Grundpfeiler für den heutigen Stand der Entwicklung war die bundesweite Initiative der Kulturstiftung des Bundes Tanzplan Deutschland (2005–2010), in der fast alle Akteure und Institutionen der professionellen Tanz-Szene beteiligt waren mit dem Ziel, die Rahmenbedingungen für den Tanz und seine öffentliche und kulturpolitische Wahrnehmung als Kunstform zu verbessern. Dabei verfolgte Düsseldorf mit dem Projekt Take-off: Junger Tanz ein Gesamtkonzept zur Erforschung und Entwicklung der künst- lerisch qualifizierten Vermittlung von Tanzkunst an Kinder und Jugendliche in der Stadt wie im Land. Das EU-Projekt Fresh Tracks – New artistic identities (2011-2013), bei dem u.a. auch das Düsseldorfer Tanzhaus NRW Projektpartner war, fokussierte die Förderung von Künstlerpersönlichkeiten. Viele der in diesem Projekt eingebundene Künstler_innen prägen auch heute noch die bundesweite Tanzlandschaft, Nordrhein- Westfalen ist heute beispiellos das vitalste Bundesland im jungen Tanz. Bundesweit aber sind es vereinzelte Produktionshäuser der Freien Szene wie das K3 in Hamburg, der Mousonturm in Frankfurt und die tanzfabrik Potsdam, an denen der künstlerische Tanz, wie auch die Performance Arts, entwickelt werden, oder Kinder- und Jugendtheaterhäuser wie der schnawwl Nationaltheater Mannheim, Comedia Theater in Köln und das JES in Stuttgart, die Choreographen ihre Türen öffnen, und nicht zuletzt Einzel- Projekte wie TanzSpielZeit in Berlin, das in der letzten Spielzeit erstmals eine Reihe von Auftragsarbeiten an 10 Choreographen für kurze Stücke zum Thema ‚Beruf: Tanz‘ vergab.
ENTWICKLUNGSMOTOR: PARTIZIPATIVE TANZPROJEKTE
Die anderen Entwicklungsmotoren in den letzten zehn Jahren waren partizipative Tanzprojekte von Kindern und Jugendlichen. Jugendliche suchen in ihrer Freizeit zumeist die Anbieter im außerschulischen Bereich auf; der zeitgenössische Tanz wird derzeit hier weiterentwickelt. Der Tanz von Kindern hingegen hat sich an manchen Orten in Deutschland als fester Bestandteil im schulischen Angebot des offenen Ganz- tagsbetriebes etabliert. Bundesweite Programme wie Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung fördern partizipative Tanzprojekte in den letzten Jahren sehr stark in der Fläche. Sie unterstützen ihn als Breitenphänomen mit dem Anspruch, Heranwach- sende mit sogenanntem bildungsfernen Hintergrund kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. Projekte wie z.B. TanzZeit in Berlin, Tanz und Schule in München oder Tanzlabor 21 in Frankfurt a. M. bringen professionelle Künstler_innen in Schulen, wo sie mit Schüler_innen in Vermittlungsprojekten arbeiten. So werden Zugänge geschaffen und Menschen einbezogen, die ihren Weg ins Theater nicht unbedingt von sich aus suchen würden. Tanz wird hier als Mittel des eigenen kreativen Ausdrucks verstanden, im Pro- zess erlebbar gemacht und aber auch als besondere Kunstform vermittelt.
STREIFZÜGE
Die künstlerischen Handschriften im Tanz für junges Publikum sind individuell und sehr vielfältig. Gemeinsam haben sie: Sie sind Stückentwicklungen, sie verstehen sich als Kunst für Kinder, die nicht belehren will, sondern offen und manchmal frech einlädt zuzuschauen, mitzumachen, sich zu wundern oder nachdenklich sein zu dürfen oder sich zu positionieren. Im Folgenden umreiße ich drei Tendenzen grob.
Der Tanz für die Allerjüngsten ist ein künstlerisch gewachsener Strang des Theaters von Anfang an mit verschiedenen Spielarten. Barbara Fuchs (fanzfuchs) setzt den Körper spielerisch, ja fast objekthaft in ihren Arbeiten ein, in „MAMPF!“ (2012, 0-4) balan- cieren zwei Tänzerinnen ein Ei auf dem Fuß und matschen mit Butter und Mehl. Florian Bilbao inszenierte das Stück „fliegen&fallen“ (2015, 2+) zum Phänomen Schwerelosigkeit und Erdanziehung als körperlichen Dialog mit einem aufblasbaren Raumobjekt des Luftobjektkünstlers Frank Fierke. Ceren Oran setzt das universelle künstlerische Vokabular des Soundpaintings für ihre Arbeit mit Musik und Bewegung ein, „Sag mal“ (2015, 2+) ist ein Stück über Sprache und Kommunikation ohne Worte.
Site-Specific performances sind (noch) selten, eine künstlerische Herangehens- weise in Bezug auf die Partizipation von Zuschauer_innen muss erfunden werden. In „Mannheimification“ (2015, 8+) hat der schnawwl in Kooperation mit La_Trottier Dance Collective eine eigene Version von „MURKAMIFICATION“ (2012 8+) von Eric Kaeil geschaffen, bei der Performer Häuserwände hochklettern und Häuserspalten mit ihren Körpern füllen. Ein gemeinsamer Gang durchs Viertel wird zur Performance. Im Berliner Tanzparcour „¡OUR PARK!“ (2015, 13+) verknüpft Lorca Renoux die verschiedenen Ortswechsel dabei thematisch mit einer steten unerwarteten Änderung der Perspektive und von Gefühlen. Das private Appartement einer Familie ist hingegen Ort für die Performance „ATO“ (2007, 6-10) von Alfredo Zinola für Kinder und Familien.
Eine Reihe von Arbeiten bringen Themen in Bewegung. Dabei stehen aktuell politische Topoi im Zentrum, die verhandelt werden. Die Tanzperformance „Rock wie Hose“ (2016, 5+) von Celestine Hennermann hinterfragt spielerisch stereotype Geschlechterzuschreibungen und wirbelt sie dabei durcheinander. In „TRASHedy“ (2012, 8+), ein Stück über das Thema Müll und Globalisierung von Leandro Kees, erklären, erzählen, fantasieren, fragen, bewegen, zeigen und zeichnen die beiden Tänzer, die von sich in der eigenen Person sprechen. Silke Z thematisiert in „Like a popsong“ (2015,13+) den Wunsch nach Popularität und Beliebtheit; dabei arbeiten jugendliche ‚Laien‘ und Profis an den Grenzen der Preisgabe von Persönlichem auf der Bühne als öffentlicher Ort.
Eine andere Erzählstrategie verfolgen Stücke wie „Ich bin’s, deine Schwestern“ (2016, 5+) von Martin Nachbar und Gabi dan Droste, die grundsätzliche Themen wie Geschwister bearbeiten; sie vertanzen sie nicht als Geschichte, sondern bringen verschiedene Geschwisterkonstellationen auf die Bühne und untersuchen so das Wechselspiel von geschwisterlicher Nähe und Konkurrenz, Schutz und Distanz, Liebe und Kampf. Franziska Henschel geht in „fühlende fische“ (2015, 5+) der Frage nach, wie und wo sich ein Gefühl, im gesamten Körper lokalisieren lässt und mit „Nimmer“ (2014) geht Antje Pfundtner dem Verschwinden und Erscheinen auf die Spur. Diese Arbeiten erzeugen offene, nicht-lineare Erzählstrukturen für eigene Interpretationen.
Die Zukunft des Jungen Tanzes? Zwei Thesen
Junge Künstler_innen heute verfügen über eine Freiheit in gesetzten Mitteln und Tech- niken. Aktuelle Entwicklungen in der Tanzszene zeigen die Nähe des zeitgenössischen Tanzes zu den Live und Performance Arts, die Verwendung von Forschungs- formen, Kampfsportarten, somatischen Methoden und Techniken wie Contact oder Yoga. Diese Trends haben in der Ausbildung einen hohen Stellenwert wie auch in den Szenen der Großstädte wie Frankfurt, Hamburg und Berlin, in die junge Menschen aus Europa und der ganzen Welt strömen. Langfristig werden diese Trends auch die Tanzkunst für junges Publikum verändern.
Heranwachsende heute sind Co-Creators. Sie erfinden, inszenieren und kommentie- ren sich selbst, ihre Rezeptions- und Produktionsweisen verändern sich grundlegend. Am Tanzhaus NRW wird derzeit mit dem für die deutsche Szene neuartigen Projekt Cliffdancers untersucht inwieweit die filmische Narrationstechnik des Cliffhangers geeignet ist, um auf ihrer Basis zeitgenössische Tanzperformances für ein junges Publi- kum zu entwickeln. Düsseldorfer Schüler_innen kreieren gemeinsam mit einem Team von Choreografen und Tänzern, Wissenschaftlern und Medienkünstlern, Bloggern und Gamedesignern eine Fan Fiction, die sie in von ihnen genutzten Plattformen und Me- dien mittels Snap-Chats, Instagram-Aktionen oder YouTube-Tutorials verbreiten. Ihre Ergebnisse präsentieren sie im Rahmen der Bühnenpremiere.
Zukunftsweisende Entwicklungen. Inspiration erhielten die darstellenden Künste für junges Publikum aus der Begegnung und Auseinandersetzung mit Kindern, Jugendli- chen und jungen Erwachsenen, das machen sie noch immer.
Der Text ist in englischer Sprache erschienen in IXYPSILONZETT Magazin für Kinder- und Jugendtheater, Heft 1, 2017. IXYPSILONZETT ist eine Veröffentlichung im Verlag Theater der Zeit.
Kritische Anmerkungen zur Allianz von Kunst, Bildung und Kindern
Kulturelle Bildung ist für viele Künstler_innen ein rotes Tuch. Ganz praktisch gesehen fürchten etliche, dass sie die Arbeit in Projekten der Kulturellen Bildung von ihrem ‚eigentlichen‘ künstlerischen Schaffen abhält, oder dass sie einem ominösen Monster dienen, welches mit Vielem zu tun hat, nur nicht mit Kunst. Hinter dieser Abwehr verbirgt sich jedoch auch das Postulat der Künstler_innen nach einem Zugeständnis der Autonomie von Kunst und der Zweckfreiheit des Kunstschaffens. Dieser Forderung wird im gleichen Atemzug immer auch der Zweifel an der gesellschaftlichen Relevanz von freier Kunst entgegengehalten. Eine Debatte über die Frage, was Kunst und Kulturelle Bildung miteinander zu tun haben, welche Qualitätskriterien von der Kunst aus in diesem Diskurs benannt werden und wie sich Künstler_innen mit welchen Mitteln selbst verorten könnten, tut not.
… nicht von der Kunst her gedacht.
Unschärfe des Begriffs Kulturelle Bildung
Der Begriff Kulturelle Bildung ist unscharf, er ist ein „Containerbegriff“ (Bockhorst/Reinwand/Zacharias 2012). In ihm versammeln sich diverse Vorstellungen, und er umfasst das gesamte Feld der Schnittmenge von Kultur und Bildung: „Kulturelle Bildung (meint) einerseits den subjektiven Bildungsprozess jedes einzelnen wie auch die Strukturen eines Bildungsfeldes mit seinen zahlreichen Angeboten.“ (ebd, a.a.O.) Die Spannbreite dieser Angebote erstreckt sich von Projekten, die zu Ausbildungszwecken durchgeführt werden wie das DM – Programm Abenteuer Kultur, über Projekte, die in die Kategorie audience development gehören bis hin zu Inszenierungen mit Kindern oder Jugendlichen, die in die Spielpläne aufgenommen werden. Oftmals werden auch professionelle Produktionen für junges Publikum der Kulturellen Bildung zugeordnet.
Instrumentelles Qualitätsverständnis von künstlerischer Arbeit
Leistungsanforderungen, die an die Durchführung von Kulturellen Bildungsprojekten gestellt werden, und auch Projektauswertungen zielen zumeist auf Qualitäten, die nicht-künstlerischen Begründungszusammenhängen entspringen. So setzen sie z.B. auf die sozialen Kompetenzen der Teilnehmenden, deren Team- und Kommunikationsfähigkeit gestärkt und deren interkulturellen Kompetenzen trainiert werden sollen Diese Aspekte wechseln, sie tauchen zu bestimmten Zeiten auf und sind für bestimmte Zwecke dienlich, sie entsprechen solchen, die im öffentlichen Diskurs jeweils brisant sind und: sie nehmen stetig zu. Die Professorin der Theaterpädagogik Ulrike Hentschel spricht hier kritisch vom „Theater als Kompetenztrainer.“ (Hentschel 2008)
Die Unschärfe des Begriffes Kulturelle Bildung wie auch die Legitimierung der Arbeit aus nicht-künstlerischen Begründungszusammenhängen führen zu völlig überbordenden Erwartungen von dem was ein_e Künstler_in mit ihrer / seiner Arbeit leisten soll und kann. Sie führen auch zu einem rein instrumentellen Qualitätsverständnis von Kunst. Die Verwertbarkeit und Brauchbarkeit von Erfolgen, Erreichtem und Nachweisbarem für außer-künstlerische Zwecke stehen an allererster Stelle.
… von der Kunst her gedacht! Kunst als inhaltlicher Bezugsrahmen.
Künstlerisches Wissen bildet allerdings das Fundament für künstlerische Vermittlung und ist Voraussetzung für das Gelingen von Projekten in der Kulturellen Bildung. Die Künste selbst müssten den inhaltlichen Bezugsrahmen darstellen: „Daraus können Qualitätsmerkmale hervorgehen, die über ein rein instrumentelles Qualitätsverständnis hinausreichen.“ (Rat Kulturelle Bildung 2014)
In diesem Diskurs über die Künste als inhaltlicher Bezugsrahmen sollten Künstler_innen das Potential und die Grenzen ihrer Arbeit erforschen, beschreiben und formulieren. Durch einen gemeinsamen Verständigungsprozess sollten Klarheit und Trennschärfe zu anderen nicht-künstlerischen Diskursen hervorgebracht werden. An aller erster Stelle sollten hier zwei klare Formulierungen stehen:
– jedwede (zweckfreie) Bereitstellung einer Möglichkeit zu künstlerischem Schaffen ist bereits ein Wert für sich,
– ästhetische Erfahrungen und künstlerische Schaffen(-sprozesse) von Menschen folgen der Gesetzlichkeit der Eigenzeit, die sich sich der direkten Verwertung, einem Vorher-Nachher-Schema entziehen.
… von der Kunst her gedacht? Vom Kind her gedacht.
Kunstschaffen als Vermittlungsprozess
Kunst ist kein naturwüchsiger Zustand. Ihre Zeichensetzungen, Symbolisierungen, Verdichtungen, Materialien etc. sind komplex. Sie müssen kennengelernt und erlernt werden. Kunst mit Kindern ist immer auch ein Vermittlungsprozess. Sie ist eine Mediation vom Erwachsenen in Richtung Kind. „… der Ansatz der künstlerischen Arbeit mit den Schülern ist derselbe wie mit Profis, aber die Kommunikation darüber muss eine andere sein.“ (Wiebke Dröge in: Leitfaden Bundesverband Tanz in Schulen o.J.)
Urbegabung Künstler_in
Künstler_innen haben oft einen unmittelbaren und nicht-strategischen Zugang zu Heranwachsenden. Aber sie sind nicht automatisch pädagogische Urbegabungen. „Die generelle Unterstellung einer pädagogischen Genialität der Künstler führt letztlich nur dazu, dass über deren erzieherisches Handeln nicht weiter nachgedacht wird.“ (Rat Kulturelle Bildung 2013)
Asymmetrisches Verhältnis
Erwachsene und Kinder befinden sich immer in einem asymmetrischen (Macht-)Verhältnis zueinander.
Auch in der Perspektive Kunst muss einem Nachdenken über Qualitätskriterien in der Arbeit mit Heranwachsenden sowohl die kritische Selbstreflektion der eigenen Position als Erwachsener in Relation zum Kind / Jugendlichen einhergehen wie auch die Reflektion der Relevanz von Strategien der Selbstermächtigung und von Selbstbildungsprozessen der beteiligten (Kinder oder Jugendlichen). Die pädagogische Bedeutung künstlerischer Prozesse für Kinder und das Vermögen künstlerisches Handeln in pädagogischen Prozessen produktiv zu machen, sind wertvolle Kenntnisse für eine tatsächliche Begegnung von (erwachsenen) Künstler_innen und Heranwachsenden auf Augenhöhe.
… von der Kunst her gedacht! 5 Thesen zu möglichen Qualitätskriterien aus der Perspektive Kunst
Theater Kunst Bildung I: Kunst hat mit Freiheit und (freiem) Spiel zu tun. Sie kreiert Frei-Räume.
In zahlreichen zeitgenössischen Inszenierungen für Kinder wie in Le jardin possible (1+)vonBenoit Sicat gestalten Künstler_innen einen Rahmen, in denen Kinder selbstbestimmt Theater erleben können.
Diesem Prinzip folgt auch das mit Kindern realisierte Projekt leaf duett von Henrik Leban und Kaja Lindal. Ihre Beobachtung, dass das Leben von Kindern durch viele Regeln bestimmt wird, initiierte den Wunsch, einen Rahmen zu kreieren, in dem Kinder ‚einfach nur‘ spielen können – das Ergebnis ist ein intelligentes Setting, eine multimediale Performance, in dem Kinder als Zuschauer_innen und Teilnehmer_innen agieren. Das Basisprinzip besteht aus vorproduziertem Videomaterial und aus einer Live-Video-Übertragung, bei der Kinder entdecken, dass Tanzen in Blättern ein Gefühl von Freiheit sowie Energie und Begeisterung hervorruft.
Ab Minute 10
Mit dieser künstlerischen Strategie schaffen Künstler_innen einen Rahmen, in dem Kinder Kunst selbstbestimmt erleben, eigenen Erfindungen und eigenen Empfindungen nachgehen können. So eröffnen sie auf spielerische Weise und mit Spiel(-en) Freiräume. Auf diese Weise ermöglichen sie ein gemeinschaftliches Erleben, in dem sie zugleich dem individuellen, eigenen Erleben Raum geben. Es entsteht ein Frei-Raum.
Theater Kunst Bildung II: Theater ist ein besonderer Raum für Kommunikation. Es schafft partizipative Räume.
Theater ist die Kunst der Begegnung von Menschen. Menschen kommen an einem Ort zusammen, um gemeinsam mit anderen etwas zu teilen. Theater ist geteilte Erfahrung und Kommunikation. Erst die körperliche, gleichzeitige Anwesenheit von Akteuren und Zuschauer_innen konstituiert eine Aufführung. Sie ereignet sich zwischen den Anwesenden und wird von ihnen gemeinsam hervorgebracht. (vgl. Fischer-Lichte) Jugendliche heute sind Co-Creators. Sie erfinden, inszenieren und kommentieren sich selbst. Nicht erst seitdem interaktive Medien die alltägliche Kommunikation prägen. Kinder wiederum sind im Spiel schon immer Schöpfer. „Zeitgenössische Theaterformen für junges Publikum begreifen die Zuschauenden als aktiv Teilnehmende an einem künstlerischen Ereignis“ (Droste/Burgschuld 2014) und entwickeln partizipative künstlerische Strategien.
Theater Kunst Bildung III: Kunst hat mit Forschung zu tun. Sie kreiert utopische Räume.
Die zeitgenössische Kunst hat sich längst wegentwickelt von der reinen Präsentation von Ergebnissen. Kunst ist zur Werkstatt geworden, zum Laboratorium. Prozesse und (künstlerische) Forschung sind elementare Bestandteile des heutigen Kunstverständnisses. Forschung und Welterkundung stellen im besonderen Maße eine korrespondierende Ebene zwischen der Art und Weise wie Kinder ihre Umwelt wahrnehmen und entdecken und künstlerischen Strategien her.
Im Forschungstheater am Fundustheater arbeiten die Künstler_innen „mit szenischem Verfahren, weil wir glauben, dass sie Brücken bauen können zwischen alltäglichem Forschen, auch kindlichem Forschen und dem was wir so normalerweise so Forschung zu nennen gewöhnt sind.“ (Sibylle Peters) Forschen zielt auf das Erforschen und Begreifen von gegebenen Zusammenhängen. Es impliziert aber auch das Ausloten von neuen Konstellationen, (noch) nicht Gedachtem und die Erfindung von Neuem. Forschung sind Zukunft und Utopisches eingeschrieben.
Theater Kunst Bildung IV: Theater hat mit Öffentlichkeit / Gesellschaft zu tun. Es erzeugt alternative Räume.
Beim BrachenBrunch sammeln Schüler_innen in einer Brache Müll, den sie zu Skulpturen formen, Flora und Fauna finden Eingang in eine Biokartei, Brotdosen werden Teil eines sozialen Diagramms. Aus den Aktionen kreieren sie gemeinsam mit dem Kulturingenieur Felix Liebig eine Performance.
„Theater ist ein Ort der Gesellschaft in der Gesellschaft, an dem sich in Gesellschaft über Gesellschaft ästhetisch reflektieren lässt. …“ so brachte es der Dramaturg Ulf Schmidt in seinem Vortrag beim Branchentreffen der Freien Szene in Berlin letzten Jahres auf den Punkt. Oder wie es Hans-Thies Lehmann ausdrückte: „Ein Ort der Versammlung, dem das Politische strukturell eingeschrieben ist.“ (Lehmann 2002)
Als Sinnbild hierfür sei das kitchenmonument von raumlabor.berlin genannt: eine aufblasbare Hülle aus transparentem Material, in der Versammlungen stattfinden können. Hier wie auch beim BrachenBrunch transformieren die Beteiligten mit ihrer Intervention einen realen, öffentlichen Raum in einen anderen. Sie entwerfen damit Räume der Unterbrechung (Kristin Westphal) und andere (öffentliche) Orte.
Theater Kunst Bildung V: Kunst / freies Theater hat mit Arbeitsstrukturen zu tun. Es arbeitet mit Räumen der Autonomie.
Eine herausragende Besonderheit der Arbeitsstrukturen im Freien Theater sind die flachen Hierarchien und das Arbeiten in kollektiven Strukturen. Selbstwirksamkeit und Empowerment spielen dabei eine wesentliche Rolle.
In Projekten wie Haircuts by children von Darren O’Donnel wird das Machtverhältnis von Erwachsenen und Kindern auf den Kopf gestellt. In The Children’s Choice Awards bei der Ruhrtriennale 2014 werden Kinder ermächtigt, (Jury-)Postionen einzunehmen. Sie sind gefragt, ihre Beurteilungen öffentlich zu äußern. Diese Projekte thematisieren und anerkennen den generationalen Unterschied zwischen Erwachsenem und Kind.
… von der Kunst her gedacht. Von Künstler_innen.
Will Kunst sich aus der Umklammerung durch das ‚ominöse Monster‘ befreien, will sie ein Ort sein, der zweckfrei ist, der Frei-Raum bietet, utopische Ansätze und andere Orte reflektiert, noch nicht Gedachtem Raum geben will – auch und gerade zusammen mit Kindern und Jugendlichen – dann müssen Künstler_innen ihre Deutungshoheit über Inhalte und über Kunst in der Kulturellen Bildung wieder an sich nehmen. Sie müssen (sich) Fragen stellen wie Frei-Räume und Neues entstehen oder was wir tatsächlich in einer Probe auf die Probe stellen – Fiktion? Realität? Es gäbe viele Fragen.
Dabei müsste auch das Wie? der Erforschung geklärt und kunsteigene Wege ausgelotet werden. In den Künsten hat sich eine Vielzahl neuer Strategien der Wissensgenerierung wie kollaborative Formate, lebendige Archive, dokumentarische Performances etc. entwickelt. Künstlerisch ausgerichtete Verfahren wie z.B. künstlerische (Forschungs-)Labore sind mögliche Formate. Sie sind in besonderem Maße geeignet die in den Projekten der Kulturellen Bildung gemachten Erfahrungen, inkorporiertes künstlerisches Wissen zum Vorschein zu bringen. Performative research unterliegt einer Wirklichkeit, die sich „auf der Basis präsentativer Symbole herausbildet“ (Seitz).Das Wissen, das sich hier kundtut, ist eines, das in der Praxis liegt, sich als Praxis und in der Praxis zeigt. Es ist an Handlung gebunden und nicht an einen abstrakten Diskurs.
Dieser Text ist im Auftrag des Bundesverbandes Freie Darstellende Künste entstanden, er erschien in einer gekürzten Fassung in: neue realitäten. Jahrbuch des Bundesverband Freie Darstellende Künste 2014/15. Hg. v. Bundesverband Freie Darstellende Künste e.V. Berlin 2015. Geheftet, 56 Seiten. (ISBN 978-3-935486-21-7) Heft bestellen hier
DAS THEATER IN BEWEGUNGEN. POLITIK UND THEATER FÜR JUNGES PUBLIKUM
Theater und die anderen
Diese Debatte über Kunst, Politik und Gesellschaft, über das Verhältnis von Theater und Wirklichkeit gehört zum Theater wie das Amen in die Kirche. Der Dramaturg Ulf Schmidt hat dieses Spannungsverhältnis in ein schönes Bonmot gepackt: „Theater ist ein Ort der Gesellschaft in der Gesellschaft, an dem sich in Gesellschaft über Gesellschaft ästhetisch reflektieren lässt. …“ (Schmidt 2014). Oder wie es der große Theatertheoretiker Hans-Thies Lehmann ausdrückte: „Ein Ort der Versammlung, dem das Politische strukturell eingeschrieben ist.“ (Lehmann 2002) Die öffentliche Auseinandersetzung über Kunst und Politik wird jedoch zunehmend vehement geführt. Sie ist in der allgemeinen Kunstdebatte vor etwa sechs Jahren mit dem Beginn der politischen Umbruchsituationen beim arabischen Frühling, den Ereignissen auf dem Tahrir-Platz und bei der Occupy Bewegung wieder aufgeflackert. Hier wie auch in dem Gespräch mit Hardie und Khuon ging es vor allem um die Verortung von künstlerischer Praxis in Umbruchsituationen. Und zurzeit fragen deutschlandweit Theaterfestivals wie das Impulse Festival in NRW dezidiert: ‚Wie kann das Theater politisch sein?‘, die Dramaturgische Gesellschaft debattierte bei ihrer letzten Jahresversammlung in Berlin über ‚Was Tun. Politisches Handeln jetzt.’ Es gibt mehr und mehr Formate, bei denen politische Aktivist_innen und Künstler_innen kollaborieren wie bei the art of being many vorletztes Jahr auf Kampnagl. Die Schärfe der Auseinandersetzung zeigt die Dringlichkeit von neuen Ideen an. Die Handlungsfähigkeit zeitgenössischer Kunst steht zur Debatte.
Theater als soziales Labor
Auf dem Parkett des Kinder- und Jugendtheaters spricht Yvette Hardie. Sie berichtet über ihre Arbeit in Südafrika. Trotz einer der modernsten demokratischen Verfassungen in der Welt hat die multikulturelle Regenbogennation immer noch mit den Nachwirkungen des Apartheit-Regimes, mit massiven Gewaltproblemen und Ungleichheiten im Bildungssystem zu kämpfen. Ihre Kunstszene ist überaus lebendig, 43% der Bevölkerung ist unter 18 Jahre alt. Die Umbruchsituation in Südafrika ist keine aktuelle, sondern eine fortwährende. Der Wunsch, das Schwellenland zu einem friedvolleren und sozial ausgeglicheneren Zustand zu verhelfen, ist groß. Ziel ihrer Arbeit sei, so Yvette Hardie, Kindern den Zugang zu Kunst zu ermöglichen. Es sei eine politische Arbeit. Sie mache Theater, weil die Welt sehr dringend die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel brauche, und das Theater Reflexionsräume hierfür etabliere.
Zwei Giganten auf dem Podium, die eine aus Kapstadt, der andere aus Berlin – sie leben am jeweils anderen Ende der Welt, denke ich und bemerke beim Zuhören fasziniert ihre Gemeinsamkeiten: ihre Begeisterung für das Theater als soziale Kunstform, als Motor für gesellschaftliche Veränderungsprozesse. Theater eröffnet den Zugang zu einer größeren Welt als der eigenen, es eröffnet Phantasie- und damit alternative Möglichkeitsräume, meint die Weltpräsidentin. Es ginge darum, sich das (eigene) Leben anders vorstellen zu können und zu erkennen, dass es änderbar ist und dass man selbst in der Lage ist, es zu ändern. Teilhabe und Selbstwirksamkeit – Hardie beschreibt damit zwei Kernbegriffe gesellschaftlich wirksamer Arbeit mit künstlerischen Mitteln. Khuon spricht von ‚Erkenntnis gewinnen durch Kunst, die die Wirklichkeit verdichtet‘.
Theater als Marktplatz
Ulrich Khuon schildert die Ereignisse am DT im letzten Jahr: Die Mitarbeiter_innen sammeln Spendengelder für Geflüchtete, unterrichten sie in der deutschen Sprache, sie bieten Übernachtungsplätze im Theater an, halten Wache für die Beherbergten, schaffen Räume für den gemeinsamen internen Austausch, öffnen das Theater als Ort des Dialoges und rufen die Diskurs-Reihe ‚In welcher Gesellschaft wollen wir leben?‘ ins Leben. „Wir sind der Marktplatz, wo man Fragen stellen und seine Ängste ausdrücken darf.“ meint er. ‚Agora‘ geht mir durch den Kopf – die Agora (altgriechisch ἀγορά) war im antiken Griechenland der zentrale Fest-, Versammlungs- und Marktplatz einer Stadt, ein kennzeichnendes Merkmal der griechischen Polis und Veranstaltungsort für die Herausbildung einer gemeinsamen Identität. Khuons Schilderungen zeigen auf eindrückliche Weise die Strategien eines Theaters, das seinen Platz inmitten der (Stadt-)Gesellschaft als solidarische Gemeinschaft sieht.
Theater und der politische Körper
Die Südafrikanerin Jennie Reznek aus Kapstadt und Abdul Kinyenya aus Uganda arbeiten mit dem Körper, den sie als Mittel zur sozialen und gesellschaftlichen Veränderung einsetzen. Die eine mit Methoden des legendären französischen Pantomimen Jacques Lecoq, der andere mit Hip Hop. In Stuttgart zeigen beide auf, wie Tanz und Bewegung Menschen ein (Körper-)Vokabular geben, mit dem sie in direkte Kommunikation miteinander treten können unabhängig ihrer Sprache und eigenen kulturellen Prägung. Der Körper wird so zum politischen Körper. Reznek beschreibt diese Arbeitsweise als ein Geschenk, insbesondere da sie in der Post-Apartheit-Ära vor der Frage stehen, wie man zusammenkommt, als Ensemble und als multikulturelle Gesellschaft. Hip Hop ist zu einer globalen, weltumspannenden Sprache in der Welt avanciert.
Heutige moderne Gesellschaften sind multiple. Mir geht ein Aufsatz von Dorothea Hilliger, Universitätsprofessorin für performative Künste und Bildung, durch den Kopf, die schreibt, dass angesichts des multiplen Charakters heutiger Gesellschaften sich mit Deleuze und Guattari ausrufen ließe: ‚Hoch lebe das Viele (multiple)!‘ und sie führt aus: „Dies lässt sich so ausdeuten, dass es in einer pluralen Gesellschaft verschiedene parallel existierende und interagierende Handlungsformen, Sichtweisen, ‚Wahrheiten’ geben muss, die sich an den unterschiedlichen Subjekten festmachen lassen. Es lässt sich aber auch so verstehen, dass im künstlerischen ‚Umherirren’ im einzelnen Subjekt verschiedene Wahrheiten aufleuchten können, dass das Hybride, welches moderne Gesellschaften wie Subjekte kennzeichnet, hier erfahrbar wird.“ (Hilliger 2015)
An den zwei folgenden Abenden sehe ich zwei Inszenierungen für junges Publikum, die genau das zum Thema machen: Football on Stilettos (Kopergietery, Belgien) und Frühlingsweihe (Maas Theater, Niederlande) machen ‚das Viele‘ erfahrbar, provozieren die Blicke ihrer jungen Zuschauer_innen in ungewohnte Richtungen.
Das Theater und die Hybriden
Zum treibenden Sound von Joop van Brakel donnern minutenlang acht junge Menschen über einen Catwalk, so dicht an mir vorbei, dass ich die Luftbewegungen in meinem Gesicht spüre, die ihre kraftvoll gesetzten Schritte verursachen. Ich sitze abends neben anderen Zuschauer_innen in einem Arena ähnlichen Bühnenaufbau und wir schauen gebannt zu wie sich die acht jungen Körper im Inneren des Ovals anrempeln, auf den Boden werfen, wie sie flüchten und mit Blicken einander belauern. Gewalt liegt in der Luft. Eine zieht sich die Mütze vom Kopf und lässt ihr langes blondes Haar über die Schultern gleiten. Nach und nach entpuppt sich jede von ihnen als eine junge Frau. Sie tragen lange Abendkleider mit wallendem Haar, dann wieder kreischen sie, verschmieren Blut und jammern. Sie wetteifern um Anerkennung und üben sich im Authentisch-sein aber so wie die Gesellschaft es von ihnen verlangt. Frühlingsweihe zeigt tiefsinnige, kräftige Bilder von Weiblichkeiten und Zur-Frau-Werden; differenzierte, gegensätzliche Bilder, die ein vielfältiges und offenes Gesamtbild ergeben. Demokratie ist eine Arena, „wo Differenzen ausagiert werden können, ohne sie im Konsens befrieden zu müssen. Solche Arenen können Theater zumindest im Kleinen sein.“ meint der Kurator Florian Malzacher. (Malzacher 2016) Frühlingsweihe ist so eine.
Einen Abend später erlebe ich mit der Inszenierung Football on Stilettos das Pendant. Die Perfomer Rhandi Vlieghe und Jef van Gestel laufen nebeneinander in einer anscheinend immer gleichen Choreographie der Schritte, kleine Unterschiede in ihren individuellen Ausführungen der Bewegungen tauchen auf, der eine stopft sich einen Busen unter’s Hemd, der andere stöckelt auf hohen Schuhen daher. Dann tun sie tun das was ‚wahre Männer‘ tun: sie grillen und schmeißen im derben Outdoor-Look die Flex an. Im permanenten, immer wieder überraschenden Wechsel transformieren sie ihr Aussehen, ihre Körper und ihre Bewegungen, die zwischen männlich, weiblich und ‚dazwischen‘ mäandern und sich nicht eindeutig festlegen lassen wollen. Dann malt einer der beiden eine lange schwarze Linie auf eine weiße Wand – er trägt die Farbe mit seinem Kopf auf. Im Zuschauerraum ist es gespenstisch still. Unter dem Strich schreibt er mit großen, schwarzen Buchstaben: ‚It’s so easy to laugh and hate.‘ Und dann darüber: ‚It takes 1000 guts to be gentile and kind.“ Klare Aussage.
Das Theater des Vielen!
Football wie auch Frühlingsweihe operieren mit innovativen Erzählweisen und sind im hohen Maß politisch. Sie machen den Körper selbst zum Politikum, zeigen Varianten von (Körper-)Bildern einer komplexen Wirklichkeit. Sie tun dies mit einer umwerfenden Offenheit, ohne Bewertung aber mit einer klaren Haltung: Die Wirklichkeit ist divers und vielschichtig, alles ist eine Frage der Perspektive.
Zeitgenössische Theatermacher_innen in Deutschland debattieren im Moment wieder heftig über die Frage der Repräsentation auf der Bühne: Wenn Theater etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben will, dann müssen wir die Frage stellen: Wer (und folglich: aus welcher Perspektive) erzählt wem welche Geschichte und: wie? Das ist auch eine Machtfrage. Football und Frühlingsweihe bringen hybride Bilder von Menschen auf die Bühne, die gewöhnlich durch normative Setzungen aus sozialen Ordnungen und Machstrukturen ausgeschlossen oder an den Rand gedrängt werden. Sie drehen dabei aber den Spieß um. Sie sagen nicht: ‚Guckt mal, solche Leute gibt es ja auch noch!‘, sondern setzen die Vielfalt und die Freiheit im Ausdruck als gegeben auf die Bühne. Die ‚Anderen‘ sind die Zuschauenden, die herausgefordert werden, sich verhalten und die Ambiguität der Bilder aushalten zu müssen. Es gibt viele Wahrheiten. Bei denen auf der Bühne, und bei denen im Publikum.
Das Theater in Bewegungen.
Krisen können in Katastrophen enden. Der Evolutionsbiologe Jared Diamond wies nach, dass die Wikingerkultur in Grönland zusammenbrach, weil sie an der aus Dänemark bekannten und dort erfolgreichen Viehzucht festhielt, die aber das ökologische Gefüge in Grönland zerstörte. Und das obwohl „die Alternative, auf die Ernährung mit Fisch auszuweichen, buchstäblich direkt vor der Haustür lag.“ (Reiz 2015) Diese Kultur ist untergegangen, weil sie auf Gewohntes beharrte.
Krisen können das Potenzial haben, Neues hervorzubringen. Für unsere heutige Gesellschaft sind neue Wege unabdingbar zum Überleben. Es herrscht Konsens, dass der eingeschlagene Weg eine Sackgasse ist. Die ausgetrampelten Pfade sind bekannt. Vielleicht kann das Theater als Marktplatz in der Gesellschaft, auf dem das Viele von Vielen verhandelt wird, dazu beitragen, bislang unbekannte Lösungen in der Beweglichkeit und Bewegungen des Vielen zu suchen und zu entdecken.
Dieser Text ist als Reaktion auf meinen Besuch beim Festival ‚Schöne Aussicht‘ in Stuttgart entstanden, zu dem mich Brigitte Dethier und Christian Schönfelder als Beobachterin eingeladen hatten. Das Thema ‚Politik‘ stand im Zentrum und meine Kolleg_innen aus Südafrika und Belgien waren da – mindestens drei Gründen sich auf den Weg zu machen und sich an den Schreibtisch zu setzen.
Das Obs Family Festival findet im März 2015 in einem ehemaligen Kirchengebäude in Observatory statt, einem ehemals ‚weißen Stadtteil‘. 25 Jahre nach Ende der Apartheit lebt dort eine leicht gemischte Community. Die die kleinen Häuser umgebenden Mauern sind mit Stacheldraht versehen, Hoftore werden via Fernsteuerungen in Gang gesetzt, Türen mit Code-Sicherheitssystemen geöffnet, jedes Haus wird von einem Hund bewacht. Man verbringt unendlich viel Zeit mit dem Öffnen und Schließen von Türen. Ein weiterer Spielort des Festivals ist das in den 70igern erbaute BAXTER Theater, das der hiesigen Universität angeschlossen ist. Das großzügige Gebäude mit drei Bühnen war ehemals Menschen mit weißer Hautfarbe vorbehalten; im März 2015 beherbergt es zum ersten Mal das ZABALAZA Festival, das rund 50 Produktionen von über 400 Künstler_innen aus 30 verschiedenen Gegenden, ausschließlich Townships, präsentiert. Es sind kraftvolle Arbeiten, die persönlichen Geschichten aus der Zeit der Sklaverei und Apartheit nachgehen, in denen Genderthemen (von Männern) offensiv debattiert und von verlorenen Träumen der black community erzählt wird. Kinder sind als Zuschauer_innen manchmal dabei; ein etwa 5-jähriges Kind sitzt auf dem Schoß seiner Begleitperson sitzt hinter mir in einer Aufführung über häusliche Gewalt durch den Ehemann; er spricht am Ende reuevoll von ‚lost dreams‘, von der Stagnation, in der er lebt.
Beim Obs Family Festival warten wir vor der Kirche auf einen zweiten Bus mit Kindern aus einem Township, die sich Einstein for beginners vom teater Petraska aus Dänemark anschauen wollen. Die Veranstalter spielen in einem Vorgarten mit den bereits angekommenen Kindern, reichen Trinkwasser. 1 ½ Stunde später kommt endlich der verspätete Bus, die Vorstellung beginnt. Einen Tag darauf kündigt sich überraschend ein Lehrer mit 200 Kindern an: er will in 2 Tagen kommen. Aber es ist keine Aufführung für diesen Zeitpunkt programmiert, das Theater hat Platz für vielleicht 120 Gäste. Die Veranstalter versuchen schnell einen passenden Aufführungsort für Produktion und Gäste zu organisieren. „Warum macht ihr das?“ frage ich die ASSITEJ-Mitarbeiter_innen. „Weil wir 200 Kindern die Möglichkeit geben wollen, ein Kindertheaterstück anzuschauen.“
Das Land der Kontraste
In Südafrika gibt es etwa 15 Theatergruppen, die sich ausschließlich dem Theater für Kinder widmen. 11 offizielle Sprachen werden gesprochen, die Stücke werden zumeist in mehreren Sprachen gespielt. Das Theater in seiner Gesamtheit speist sich aus vielen Kulturen. Schauspieler_innen und Tänzer_innen brillieren mit der Üppigkeit ihrer Erzähltradition und mit der einen in den Bann ziehenden Rhythmik des physischen Theaters sowie mit atemberaubend wundervollem Gesang. Dann sind wiederum deutlich europäische Sprechtheatertraditionen zu erleben, in anderen Stücken zeigt sich der Einfluss der von den NOGs entwickelten Praxis eines aufklärerisch-didaktischen Theaters: „Wir waren gefragt Stücke über Aids und Wasser zu machen. Die Kraft des Utopischen, der Fantasie … das war nicht gefragt. Wo sie geblieben ist? …“ meint Gerald Bester vom Hillbrow Theatre Project in Johannesburg.
Das Obs Family Festival zeigt all dies in seiner Widersprüchlichkeit und Ungleichzeitigkeit. Programmiert ist auch das wunderschön gespielte Nomvula (4+) von Thando Doni – ein Stück über Wasser. Der Verschmutzung des Planeten wird schließlich zusammen mit den (dazu animierten) jungen Zuschauer_innen ein Ende gesetzt.
Das Theater der Ungleichzeitigkeit
In Nelson Mandelas Biographie spiegelt sich die Geschichte (des schwarzen) Südafrikas. Jenine Collocott und Nick Warren schreiben über Mandelas Kindheit und fragen: ‚Wie wurde er zu dem was er war?‘ Collocott inszeniert ihre Geschichte als Erzähltheater mit drei Spieler_innen und verwendet Holzmasken für die Darstellung von Figuren. Das Stück liefert gerade für die nachwachsende Generation, die Mandela nur noch als Mythos (wenig) kennen, wichtige Informationen. Ihm zugrunde liegt aber auch die Frage: Was macht einen Menschen trotz aller Widrigkeiten zu einer so starken Persönlichkeit?
Konträr dazu steht Halbbread Technikque DIY / Post von Martin Schick, ein Stück ohne Schauspieler. Der 40-minütige Ablauf wird durch von Zuschauer_innen vorgelesene Spielanweisungen strukturiert, die der Autor in einem Paket zu Beginn der Performance auf die Bühne bringen lässt. Am Ende tanzt etwa die Hälfte des Publikums auf einem Viertel der Bühne, das für die Performance zur Verfügung stehende Geld ist an die Akteure verteilt worden. Im Anschluss folgt eine Diskussion mit der Kuratorin über Fragen wie: ‚Was kann man wie teilen?‘ und die klare Botschaft: ‚Bringt Teilen nicht das eigentlich Wesentliche den Menschen, nämlich (das) Glück (des Teilens)?‘ Den Macher_innen geht es um die kritische Debatte über Finanz- und Gesellschaftssysteme und den globalen Kapitalismus.
Fruit von Paul Noko sowie Secret Flames (UKAO / Sisipho Mbopa) (13+) thematisieren Vergewaltigung und Inzest. In beiden Stücken sind es Mädchen, die Gewalt erfahren und Männer, die sie ausführen. Beide Inszenierungen nehmen die Perspektive der Opfer ein, die ihre Geschichte – ohne die physische Anwesenheit der Täter auf der Bühne – selbst aufdecken. Die äußerst intensiven Darstellungen beziehen ihre Kraft völlig aus dem Spiel der Darstellerinnen. Sie erzählen mit Wort, Bewegung und Gesang vom Leid ihrer Figuren und ganz zum Schluss von deren festen Entschluss zu einem Aufbruch in eine (ungewisse) Zukunft.
In Lingua Franca (16+) spannen 10 jungen Künstler_innen – Mawande Manez Sobethwa, Ncedisa Jargon Mpemnyama, Lwanda Sindaphi and Mbongeni Nomkonwana, zum größeren Teil people of coloured – einen aufregenden Bogen zwischen tradierten und zeitgenössischen Formen afrikanischen Theaters, indem sie klanglich und textlich Slam-Poetry und traditionelles Liedgut kombinieren. Sie selbst verstehen sich als poetry movement, deren Mission es u.a. ist: „To speak against the injustices of this world. To contribute in making this country and continent better.“ In Lingua Franca brodelt der Unmut dieser jungen Generation über bestehende Verhältnisse in einem strengen Rhythmus und in der formalen Strenge ihres Setting.
Die junge Poetry-Texterin Koleka Putuma nimmt mit ihrer Gruppe Velvet Spine beim Festival Infecting the city satirisch die Gier junger Frauen sich um jeden Preis in den Medien produzieren zu wollen und die Vermarktungsstrategien des www und moderner Medien auf’s Korn. Ihre Absicht: „Yellow sunday (…) aiming to start a dialogue around how artists can utilise political material without censorship on the part of the artist, or defamation of the government.“
Die junge Künstlerin Joanna Evans zeigt in Patchwork (1-4) zeigt eine assoziative Geschichte rund um das Thema ‚Zu-Bett-Gehen‘. Diese Art der assoziativen Inszenierung, die mit Atmosphären und Sprachkürzeln arbeitet, ist in Südafrika völlig neu. Das gilt auch für die Inszenierungen Into the farytale (4-11), bei der die Besucher_innen blind durch einen Parcour geführt werden, und Pushmi Pulli (1-6) von Bulelani Mabutyana, in der von zwei Tänzerinnen gespieltes Doppelwesen die nicht trennbare Zweisamkeit mal verärgert und dann wieder freudig durchlebt.
In Südafrika ist die Theaterlandschaft für junges Publikum im Um- und Aufbruch, ihre Stücke erzählen von Gewalt, vom Traum und der Hoffnung auf … : die Regenbogennation. Im Hintergrund agiert Yvette Hardie, die vernetzt, konkrete Arbeitsmöglichkeiten für Künstler_innen fördert, Nachwuchskünstler_innen (und mich) mit Kindern im Township vor Ort arbeiten lässt, Textentwicklungen berät, Lehrer_innen bei einem Glas Wein vor deren Vorstellungsbesuch vom Wert des Theaters für Kinder überzeugt, Requisiten und ihre Gäste aus Europa von A nach B fährt. Sie mischt sich ein.
Residency in Kapstadt und Johannesburg (Südafrika) 2015 „Dance and Theatre for Young Audiences specialist, Gabi dan Droste paid our shores a visit on Thursday to host a workshop and discussion at the National School of the Arts. She spent a few days in Johannesburg engaging with the performing arts community and sharing some of her work and experience working in theatre and dance for young audiences in Germany and across Europe.“ (Yvette Hardie, President ASSITEJ SA and President International ASSITEJ)
Förderer der Residenz Goethe Institut Johannesburg, Magnet Theatre Cape Town, ASSITEJ South Africa
Eine gekürzte Fassung dieses Textes isthier erschienen: Gabi dan Droste (2015): «Take a child to children’s theatre today. Theater für junges Publikum in Südafrika», In:
IXYPSILONZETT Magazin für Kinder- und Jugendtheater 10/2015, 18-19.