Partizipative Forschung: ‚Was wir brauchen. Eine Wunschliste aus der Sicht eines Kinder- und Jugendtheaters‘

Dieser Artikel beruht auf einem Redebeitrag der Autorin im Rahmen der Konferenz „Forschung im Theater für junges Publikum“ in Hamburg im November 2022.

Was brauchen wir, um Kindern und Jugendlichen einen Zugang zum Theater zu ermöglichen? Wie verändert Forschung unsere Strukturen und Ressourcen, welchem Arbeitsverständnis und welcher Selbstverortung entspringt sie?

Grundsätzliche Ausrichtung sowie gesellschaftlicher Auftrag von Theatern für junges Publikum ist gemeinhin die Gestaltung eines Programms, eines Spielplans, das dem Zielpublikum den Vorstellungsbesuch von Inszenierungen, mittlerweile auch häufig in einer Rahmung von theaterpädagogischer Begleitung ermöglicht. Der Ansatz, Forschung im Kinder- und Jugendtheater zu betreiben, geht weit darüber hinaus; er verändert Inhalte, Kommunikationsformen, Verständnisse von künstlerischer Produktion und Rezeption und folglich die Bedarfe und Ressourcen in den Strukturen von Theaterhäusern. Er spiegelt eine andere Verortung dieser Orte in ihrem Umfeld wider. Auch wenn das Forschungstheater Hamburg dasForschen allerzum Programm gemacht hat, an vielen anderen Orten gemeinsam geforscht und partizipativ Kunst gemacht wird, sind die strukturellen Voraussetzungen für diese Arbeit zu wenig bekannt, noch gibt es ausreichende Förder- und Finanzierungsmöglichkeiten, die Voraussetzung sind, um diese Arbeit machen zu können.

Im folgenden Beitrag sind hierzu Aspekte aus der Sicht eines Theaters für junges Publikum, dem FELD-Theater in Berlin, wie aus meiner eigenen künstlerisch-forschenden Praxis stichwortartig zusammengetragen. Sie münden in je abgeleitete Forderungen für die Arbeitspraxis, verknüpft mit der Hoffnung, dass sie in naher Zukunft Umsetzungsmöglichkeiten finden werden.

Sie bilden eine erste Wunschliste, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und dem weiteren Diskurs über Forschung im Kinder-und Jugendtheater dienlich sein soll; sie kann zukünftig differenziert und erweitert werden.

JETZT

Räume

Forschendes Theater geht aus der Black Box eines Theaterhauses hinaus, hinein in die Nachbarschaft, in Schulen, in Kitas, in Senior*innenheime, die Jugendzentren, Stadtteilcafés usw. Künstler*innen suchen Menschen unterschiedlichsten Alters an den Orten auf, an denen sie leben. Forschendes Theater öffnet die Theater, vernetzt sie, bringt sie mit Menschen in Kontakt, die in ihrem Alltag vielleicht wenig an Kunst und Kultur teilhaben. Manchmal, aber nicht immer, kommen sie wieder zurück in das Theater.

→ Es braucht Orte außerhalb der Theater, an denen diese Arbeit verankert werden kann. Wir brauchen Räume als Orte für Versammlung.

Zeit

Forschendes Theater zielt nicht allein auf die Produktion von Stücken, die geprobt und aufgeführt werden im Sinne einer Spielplanlogik. Die Arbeit ist vielmehr am Prozess orientiert, an dem gemeinsamen Austausch von Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Expert*innen des Alltags, der Zeit braucht, um etabliert und durchgeführt werden zu können. Forschende Praxis verweigert sich einer Verwertungslogik, vertraut auf die Prozesse und deren Entwicklung mit offenem Ausgang bzw. einem (vorläufigen) Ergebnis, das wieder zu einer neuen Frage führen kann.

→ Es braucht auf der Ebene der Öffentlichkeitsarbeit Mittel und Methoden, die diese Prozesse sichtbar machen. Dafür benötigt es Fördertools, die weggehen vom Projekt-Hopping und Produktionslogik hin zu einem umfassenderen Verständnis des künstlerischen und forschenden Arbeitens mit Kindern, das auf Nachhaltigkeit und der Verwebung von Prozess und Produktion von künstlerischer Arbeit zielt.

Wissen, Kompetenzen und Ressourcen

Im Forschenden Theater wird nicht lediglich ein Produkt vom Besucherservice an die Konsumenten verkauft oder von Theaterpädagog*innen in Vor- und Nachbereitungen erläutert. Vielmehr müssen Kontakte zum Umfeld koordiniert, gepflegt, aufrechterhalten und immer wieder neu verhandelt werden. Das setzt im hohen Maße Kenntnisse über die diversen Zusammensetzungen unserer Gesellschaft voraus wie auch kommunikative Grundfähigkeiten und fachliches Wissen über das Arbeiten im ’nicht-künstlerischen Umfeld‘ außerhalb der Theater.

→ Es braucht eine grundlegend andere, den Bedarfen angemessene personelle Ausstattung. Es benötigt entschieden eine größere Offenheit in den Ausbildungskonzepten, die den Nachwuchs dazu befähigt, in diesem Arbeitsfeld agieren zu können.

GRUNDLEGEND

Kulturpolitik

Es braucht völlig andere Budgets für unsere Arbeit. Forschen im Kinder- und Jugendtheater ist wie auch die künstlerische Arbeit in diesem Feld Arbeit. Sie sollte als solche anerkannt und fair bezahlt werden.

Es braucht ein kulturpolitisches Verständnis für die Komplexität unserer Arbeit sowie deren Anerkennung und Unterstützung.

Gerade hierfür benötigt es eine qualitative Forschung, die forschende Arbeit befragt, die ihr Potential darlegt, ihre Mängel begutachtet und darüber hinaus impulsgebender Bestandteil der Weiterentwicklung forschender Praxis wird.

ZUKUNFT

Aus- und Aufbau von Methodiken und Themen

Forschende Praxis ist transdisziplinär. Für die weitere Entwicklung der Forschung im Kinder- und Jugendtheater brauchen wir:

eine verstärkte Öffnung hin zu anderen künstlerischen Disziplinen und den Austausch mit Kolleg*innen. Insbesondere im Tanz sind andere forschende Ansätze entstanden. Sie ermöglichen die Reflexion von anderen Wissensformen und deren Generierung wie von Praktiken wie z.B. Community Dance/Community Building.

eine verstärkte Begegnung und Auseinandersetzung mit Kolleg*innen, deren Perspektiven z.B. aufgrund einer Behinderung oder von Alter marginalisiert sind. Die Auseinandersetzung mit Inklusion und Equity muss eine (größere) Rolle in der weiteren Entwicklung von Forschung spielen.

Es gilt Plätze frei zu machen sowie Deutungshoheit und Macht abzugeben; genau das kann gemeinsame forschende Praxis.

Zum Netzwerk Forschung im Kinder- und Jugendtheater: Hier

Veränderung ist vorstellbar ESSAY: Zum Einfluss von Theater für junges Publikum aus Frankreich, Benelux und Skandinavien

Das Recht von Kindern auf Kunst und Teilhabe ist UN-verbrieft. Im deutschen Theater für junges Publikum ist allerdings erst spät angekommen, dass sie zur aktiven Beteiligung von Anfang an auch fähig sind. Prägend dafür waren Produktionen aus westeuropäischen Ländern wie Belgien, Frankreich, Benelux oder Dänemark. Ihr Geheimnis: Vertrauen.

Den gesamten Text gibt es hier.

Der Text ist als Beitrag im Kontext von „Play Time – Stream & Diskurs Junges Theater“ – Auf Tour – Junges Theater aus Benelux und Skandinavien entstanden.

Trouble. Partizipative Recherchen und eine Tanzperformance mit Kindern, erwachsenen Profis und älteren Kolleginnen.

„Ich möchte der älteren Generation gern den Schmerz geben, den ich empfinde.“ meint Hannah. Sie ist 14 Jahre alt, trägt eine Zahnspange und ist eine fröhliche und zugleich tiefe Persönlichkeit. Wir proben an dem Stück ZUSAMMEN BAUEN, in dem 3 verschiedene Generationen zusammen auf der Bühne tanzen und ein Holz-Objekt permanent bewegen und verändern. Hannahs Äußerung lässt mich innehalten. ‚Warum?‘ frage ich sie. ‚Ich glaube, dass Erwachsene mehr Erfahrungen darin haben wie man mit Schmerz umgeht‘ entgegnet sie. Hannah beginnt in regelgeleiteten Improvisationen eine tänzerische, körperliche Umsetzung ihres Wunsches zu erarbeiten. Zizzi und Niklas sind 9 und 11 Jahre alt. Sie finden die ihnen zugeteilte Improvisationsaufgabe: ‚Linien im Raum tanzen‘ langweilig, sie wollen etwas eigenes ausprobieren und entwickeln. Sie besprechen sich und fangen an zu improvisieren. Nach einer Weile gehe ich zu ihnen hin und frage wozu sie sich entschlossen haben: ‚Sie tanzen ihr Leben von Geburt bis jetzt.‘ meinen sie. Mir verschlägt es die Sprache, ich nicke stumm und schaue ihnen zu wie sie mit ihren zarten Körpern den Raum kraftvoll erobern, Linien im Raum verfolgen, Haltestellen einrichten und sich mal leichtfüßig und mal schleppend bewegen.“ (Auszug aus Textentwurf ‚Lernen im Prozess‘.)

Wir leben in Zeiten, in denen der Zustand der Welt und der Erde dringend nach Lösungen verlangt. Wir leben in dem Gefühl, dass keine Zeit mehr zu verlieren sei, denn wenn wir nicht jetzt handeln, dann droht unser ‚Haus’ in einer Flut untergehen oder von heißer, brennender Luft konsumiert zu werden. Ein anderes Gefühl betrifft das Zusammenraufen und das Gemeinsam-Lösungen-Finden. Mit den zu erwartenden Klimaveränderungen werden gewaltige soziale Verwerfungen prognostiziert: Ressourcen, Kapital, Privilegien, wie auch Umweltschäden und -kosten sind schon lange nicht gerecht verteilt. Weder zwischen Kontinenten noch zwischen Nationen, Gesellschaftsschichten oder Generationen. (Auszug aus Projektkonzept von Martin Nachbar und Gabi dan Droste)

Gaëtane Douin , Kaveh Ghaemi , Niklas Schüler (o) , Hannah Pirot , Maria Wollny , Erik Leuthäuser (v.l.n.r.)

Vor dem Hintergrund eines apokalyptischen Grundrauschens, das für uns trotz allem mit dem Gefühl einhergeht, dass wir Menschen nur in unserer Vielfalt zu Kooperationen kommen können geht es uns aufgrund der vielen Konflikte, die neben einem bereichernden Austausch eben auch in der Vielfalt liegen, nicht immer nur um die eine neue Idee, die das Problem lösen wird und das Finden von immer neuen Lösungen auf alte Fragen. Mindestens genauso wichtig, wenn nicht wichtiger, ist in der Kooperation das gemeinsame Stellen, Formulieren und Umformulieren von Fragen und Antworten; das Teilen von Nicht-Wissen und von Unsicherheiten; das Hinhören, Ausprobieren und Scheitern. Zentral ist dann nicht mehr die Antwort auf das Drängende, sondern vielmehr die Resonanz, aus der gemeinsam Aussagen, aber auch Gesten und Handlungen formuliert und erneut befragt werden.

Beitrag «Trouble. Partizipative Recherchen und eine Tanzperformance mit Kindern, erwachsenen Profis und älteren Kolleginnen» In: Westphal, Kristin, Birgit Althans, Matthias Dreyer, Melanie Hinz (Hg.) (2022): Kids on Stage – Andere Spielweisen in der Performancekunst transgenerational. transkulturell. transdisziplinär.

Fotos: Dieter Hartwig ©

VOM FRAGEN UND NICHT-ANTWORTEN: In welcher Welt will ich leben?

Seit Wochen weiß ich, dass ich eingeladen bin, beim AGORA Theater in St. Vith etwas zur Frage ‚in welcher Welt will ich leben?‘ zu sagen. Inspiration geben, Anregungen für einen super Austausch zwischen Generationen. Nichts lieber als das? Worüber denke ich nach, wenn nicht genau über dieses Thema?! Wochenlang lade ich einen Text nach dem anderen aus dem Netz herunter. Recherche! Texte über Europa, über Trump, über den Brexit, über Flutkatastrophen – die Nachrichten in meinem digitalen Ordner quillen über – Jede Sekunde werden 14 Stunden Videomaterial auf Youtube hochgeladen. Nur auf Youtube. Nicht zu denken was das für das ganze Netz heißt…

Auf Youtube singt Kate Tempest ‚Europe is lost‘. Ich schwelge in ihrer Lyrik und bewundere die junge Rapperin für ihre Emotionalität. Ann Marei Kantereit tönt mit KIZ ‚Hurra, diese Welt geht unter:‘ und ich komme mir vor wie eine Nussschale auf hoher See.

Seit Wochen verfolge ich Nachrichten aus meinem Kiez, aus Berlin, Europa und möglichst noch ein bissen mehr über den Tellerrand. Seit Wochen fällt mir von Tag zu Tag ein neuer Anfang ein, wie ich also starte mit meinem inspirierenden Vortrag: Am Tag, an dem geknüppelt wurde in Barcelona, wurde mir klar… oder:  An dem Tag, an dem Irma ihr Unwesen trieb, …. oder: An dem Tag, an dem die Rechten in den Bundestag gewählt wurden, …. usw. usw. usw. Man verliert den Anfang. Zwischendrin denke ich an eine Krankenstation. Vielleicht sind performative Aktionen klarer in ihrem Zugriff. Wirkungsvoller?

In meiner Fantasie füllt sich eine Krankenstation mit all diesen Menschen, den Nöten und dem Globus und ich überlege wie ich denn da noch ein Setting draus gestalten könnte ….

In meiner Fantasie schlagen die Wellen höher und ich drohe in meiner Nussschale in ihnen unterzugehen. Sowohl mit meinem völlig inspirierten und inspirierenden Vortrag wie auch ich mit mir selbst. Ich schwimme auf hoher See umgeben von Krisen und Untergangszenarien. Warum sollte gerade ich diese Frage beantworten können? Ich schlage den Laptop zu.

MEINE TOCHTER kommt in mein Arbeitszimmer und meint, sie würde bei der Frage ‚In welcher Welt will ich leben?‘ wohl die Figur der Worldlady einnehmen wollen. Warum? Frage ich. Naja, die wünsche sich doch dann immer den Weltfrieden, keinen Hunger mehr auf der ganzen Welt usw. Ehrenwerte Wünsche, ja – sage ich, aber ein bisschen dünn für einen Vortrag, oder? Sie kichert. Wir lachen.

Meine Tochter ist Anfang 20, sie lernt bei einem Tierarzt und will erst mal Tiermedizinische Fachangestellte werden und dann weiterschauen. Ich denke nach. Über diese Antwort, die meine Tochter zur Hand hatte und ich denke, genau darum kann es ja nicht gehen. Nicht dass ich mir den Weltfrieden nicht wünschte … das wäre einfach zu einfach.

Einfache Antworten sind derzeit leider häufig viel zu schnell zur Hand. Nach den Bundestagswahlen vor drei Wochen fragen sich viele jetzt: Wie könnte es soweit kommen? Wie konnte es dazu kommen, dass ‚wir‘ unsere Demokratie nun in Gefahr sehen? Anhaltspunkte werden in der sich schnell entwickelten Globalisierung gesehen, die durch ihren Highspeed Menschen entwurzelt und uns alle zu ‚Inhabitants of the Global City macht. Der Einzelne werde abgehängt, die Gesellschaft entsolidarisiere sich zunehmend. Folglich suchen Menschen wieder das Verbindende, eine Identität – sie finden ein Volk, eine Nation, Definitionen durch Abgrenzung. Dort wo der Dialog, das Miteinandersprechen aufhört, führt Abgrenzung zu Gewalt. Immerschon. Gerade weil wir zurzeit erleben, dass einfache Antworten leider häufig viel zu schnell zur Hand sind, denke ich zunehmend über das Antworten selbst und Antworten nach.

AUF DIE SUCHE GEHEN – es gibt keine einfachen Antworten 2: Vom Aushalten des Ungewissen.

Ich geh auf die Suche. Die Frage, in welcher Welt möchte ich leben, ist immer auch eine nach Zukunft. Wie stelle ich mir eine Welt in Zukunft vor? Was ist da und sollte sich in Zukunft ändern? Wie wünsche ich mir die Zukunft? Auf der Suche, ob es Prognosen gibt, Annahmen wie sich die Zukunft entwickeln wird, stöbere ich in meinen Unterlagen und finde einen Artikel über Berufe, die es vor 10 Jahren noch nicht gegeben hat. Ich lese u.a., dass 65% der Kinder, die heute eingeschult werden, im Laufe ihres Lebens Berufe ergreifen werden, die wir heute noch nicht auf dem Radar haben. Wir leben gerade in einer Zeit einer rasanten weltweiten Veränderung, einer weltweiten Transformation. Der Dramaturg Ulf Schmidt spricht von DiGITAL NAISSANCE. Einer Revolution der Wirthschaft, der Arbeitswelt, des Geldes, der Politik und des Zugangs zum Wissen und zur Kultur: Wir leben in einer Naissance und zwar in der digitalen Naissance, die sich vollzieht, ohne dass sie bewusst betrieben oder durch gesellschaftliche Ideale projektiert würde.“ Wir leben in einem revolutionären Umbruch ohne revolutionäres Subjekt, ohne revolutionäres Konzept, ohne revolutionäre Utopie. Wir wissen nicht, ob wir uns auf dem Marsch der Lemminge befinden, oder auf dem Zug ins gelobte Land.“

Wenn wir die Frage nach der Zukunft stellen, so müssen wir gestehen, dass wir nicht wissen wie genau Zukunft aussieht.

Natürlich muss man gute und wichtige Fragen stellen, gerade weil wir zurzeit erleben, dass einfache Antworten leider häufig viel zu schnell zur Hand sind. Aber es könnte eben sein, dass es nicht auf alles Antworten gibt, auch dass wir nicht wissen wie genau Zukunft aussieht. und dass man das nicht-sofort-Beantworten-Können aushalten muss. Die Frage nach Zukunft kann ich meiner Tochter nicht beantworten; ich muss da den mir vorgesehenen Platz als Ältere und daher Wissende aufgeben. Die Frage nach Zukunft stellt sich für meine Tochter zudem auch ganz anders als für mich. Sie ist einfach jünger als ich. Ich bin halt mein Alter, das ich bin.

Aber: Wir sitzen auch im gleichen Boot: Wir wissen beide nicht, wie die Zukunft aussehen wird.

VOM FRAGEN UND NICHT-ANTWORTEN: ein Gemisch.

Statt schnelle Antworten zu generieren erscheint es mir vielmehr viel wichtiger, ins Gespräch zu gehen, einanderzuzuhören, sein Nicht-Wissen zu teilen, sich auszutauschen und sich Zeit zu lassen, nachdenklich zu sein, zu hinterfragen.

Die Fähigkeit zu hinterfragen, kann auch eine Stärke sein. Statt immer schnellere Lösungen von alt bekannten Fragen zu generieren erscheint es mir wichtig, auch die Fragen zu hinterfragen und auch neue zu entwickeln. Etwas Neues, Zukünftiges – eine nächste Gesellschaft entsteht sogesehen durch eine kreative Veränderung des Gemisches aus Fragen und Antworten.

AUF DIE SUCHE GEHEN – Es gibt keine einfachen Fragen 1: Aus ‚In welcher Welt will ich leben?‘ wird ‚In welcher Gesellschaft will ich leben?‘

Ich geh also weiter auf die Suche und hinterfrage die Frage: In welcher Welt möchte ich leben? Sie ist so allumfassend. Wer oder was ist die Welt? Wer Ich? Und was meint denn ‚leben‘, … möchte ich leben?‘

Ich habe keine Antworten und nun kommt die nächste Überraschung: Ich habe auch keine Mega-Fragestellungen, ich möchte vielmehr zwei Gedankengänge teilen. Zwei Gedankengänge, die aus Gesprächen mit zwei Menschen entstanden sind, denen ich denen ich in letzter Zeit gern zugehört habe, da sie mein eigenes Denken hinterfragen, mich herausfordern:

SANYA LINDFORS – oder wie ich anfing zu verstehen was Rassismus bedeutet.

 

CAROLIN EMCKE – und wie ich anfing zu verstehen was eine Mehrheit ausmacht.

„Eine machtvolle Mehrheit im Sinne von Baldwin ist nichts, was man besitzt, sondern etwas, das man immer wieder sprechend und handelnd herstellen muss.“

 

 

Auszug aus einem Vortrag beim AGORA THEATER in St. Vith (Belgien).

ZEITGENÖSSISCHER TANZ FÜR JUNGES PUBLIKUM. Positionen, Räume und Perspektiven

Der zeitgenössische junge Tanz ist ein sehr junges Phänomen in Deutschland. War er bislang eher eine Randerscheinung in der Landschaft der darstellenden Künste, so entfaltet er sich derzeit rasch. Indikatoren hierfür sind die Veränderungen der Festi- vallandschaft in den letzten fünf Jahren: Im Jahr 2016 präsentierte das Internationale Tanz- und Performance-Festival für junges Publikum Think Big in München bereits seine fünfte Ausgabe, es gab erstmalig das Festival Zig Zag- Neuer Tanz für junges Publikum in Potsdam und Auf dem Sprung – Junger Tanz im Dialog in Aachen. In Berlin bringen die Berliner Festspiele beim Tanztreffen der Jugend seit 2014 jährlich eine Woche lang sieben Tanzgruppen aus Deutschland zusammen. Diese Veranstaltungen sind gegenwärtig Ergebnis einer lebendigen Tanzszene, die im Aufbruch ist, den Jungen Tanz zu entdecken.

Choreograf_innen und Tänzer_innen in Deutschland arbeiten zumeist freischaffend in oft wechselnden Konstellationen, verschiedenen Projekten, mal als Einzelkünstler_innen, mal in längerfristigen Liaisons. Um produzieren, experimentieren, die eigene künstlerische Handschrift und den zeitgenössischen Tanz (weiter-)entwickeln zu kön- nen, brauchen Künstler_innen Orte und Räume, Partner und Projekte.

ENTWICKLUNGSMOTOR: PROJEKTE

Ein Grundpfeiler für den heutigen Stand der Entwicklung war die bundesweite Initiative der Kulturstiftung des Bundes Tanzplan Deutschland (2005–2010), in der fast alle Akteure und Institutionen der professionellen Tanz-Szene beteiligt waren mit dem Ziel, die Rahmenbedingungen für den Tanz und seine öffentliche und kulturpolitische Wahrnehmung als Kunstform zu verbessern. Dabei verfolgte Düsseldorf mit dem Projekt Take-off: Junger Tanz ein Gesamtkonzept zur Erforschung und Entwicklung der künst- lerisch qualifizierten Vermittlung von Tanzkunst an Kinder und Jugendliche in der Stadt wie im Land. Das EU-Projekt Fresh Tracks – New artistic identities (2011-2013), bei dem u.a. auch das Düsseldorfer Tanzhaus NRW Projektpartner war, fokussierte die Förderung von Künstlerpersönlichkeiten. Viele der in diesem Projekt eingebundene Künstler_innen prägen auch heute noch die bundesweite Tanzlandschaft, Nordrhein- Westfalen ist heute beispiellos das vitalste Bundesland im jungen Tanz. Bundesweit aber sind es vereinzelte Produktionshäuser der Freien Szene wie das K3 in Hamburg, der Mousonturm in Frankfurt und die tanzfabrik Potsdam, an denen der künstlerische Tanz, wie auch die Performance Arts, entwickelt werden, oder Kinder- und Jugendtheaterhäuser wie der schnawwl Nationaltheater Mannheim, Comedia Theater in Köln und das JES in Stuttgart, die Choreographen ihre Türen öffnen, und nicht zuletzt Einzel- Projekte wie TanzSpielZeit in Berlin, das in der letzten Spielzeit erstmals eine Reihe von Auftragsarbeiten an 10 Choreographen für kurze Stücke zum Thema ‚Beruf: Tanz‘ vergab.

ENTWICKLUNGSMOTOR: PARTIZIPATIVE TANZPROJEKTE

Die anderen Entwicklungsmotoren in den letzten zehn Jahren waren partizipative Tanzprojekte von Kindern und Jugendlichen. Jugendliche suchen in ihrer Freizeit zumeist die Anbieter im außerschulischen Bereich auf; der zeitgenössische Tanz wird derzeit hier weiterentwickelt. Der Tanz von Kindern hingegen hat sich an manchen Orten in Deutschland als fester Bestandteil im schulischen Angebot des offenen Ganz- tagsbetriebes etabliert. Bundesweite Programme wie Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung fördern partizipative Tanzprojekte in den letzten Jahren sehr stark in der Fläche. Sie unterstützen ihn als Breitenphänomen mit dem Anspruch, Heranwach- sende mit sogenanntem bildungsfernen Hintergrund kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. Projekte wie z.B. TanzZeit in Berlin, Tanz und Schule in München oder Tanzlabor 21 in Frankfurt a. M. bringen professionelle Künstler_innen in Schulen, wo sie mit Schüler_innen in Vermittlungsprojekten arbeiten. So werden Zugänge geschaffen und Menschen einbezogen, die ihren Weg ins Theater nicht unbedingt von sich aus suchen würden. Tanz wird hier als Mittel des eigenen kreativen Ausdrucks verstanden, im Pro- zess erlebbar gemacht und aber auch als besondere Kunstform vermittelt.

STREIFZÜGE

Die künstlerischen Handschriften im Tanz für junges Publikum sind individuell und sehr vielfältig. Gemeinsam haben sie: Sie sind Stückentwicklungen, sie verstehen sich als Kunst für Kinder, die nicht belehren will, sondern offen und manchmal frech einlädt zuzuschauen, mitzumachen, sich zu wundern oder nachdenklich sein zu dürfen oder sich zu positionieren. Im Folgenden umreiße ich drei Tendenzen grob.

Der Tanz für die Allerjüngsten ist ein künstlerisch gewachsener Strang des Theaters von Anfang an mit verschiedenen Spielarten. Barbara Fuchs (fanzfuchs) setzt den Körper spielerisch, ja fast objekthaft in ihren Arbeiten ein, in „MAMPF!“ (2012, 0-4) balan- cieren zwei Tänzerinnen ein Ei auf dem Fuß und matschen mit Butter und Mehl. Florian Bilbao inszenierte das Stück „fliegen&fallen“ (2015, 2+) zum Phänomen Schwerelosigkeit und Erdanziehung als körperlichen Dialog mit einem aufblasbaren Raumobjekt des Luftobjektkünstlers Frank Fierke. Ceren Oran setzt das universelle künstlerische Vokabular des Soundpaintings für ihre Arbeit mit Musik und Bewegung ein, „Sag mal“ (2015, 2+) ist ein Stück über Sprache und Kommunikation ohne Worte.

Site-Specific performances sind (noch) selten, eine künstlerische Herangehens- weise in Bezug auf die Partizipation von Zuschauer_innen muss erfunden werden. In „Mannheimification“ (2015, 8+) hat der schnawwl in Kooperation mit La_Trottier Dance Collective eine eigene Version von „MURKAMIFICATION“ (2012 8+) von Eric Kaeil geschaffen, bei der Performer Häuserwände hochklettern und Häuserspalten mit ihren Körpern füllen. Ein gemeinsamer Gang durchs Viertel wird zur Performance. Im Berliner Tanzparcour „¡OUR PARK!“ (2015, 13+) verknüpft Lorca Renoux die verschiedenen Ortswechsel dabei thematisch mit einer steten unerwarteten Änderung der Perspektive und von Gefühlen. Das private Appartement einer Familie ist hingegen Ort für die Performance „ATO“ (2007, 6-10) von Alfredo Zinola für Kinder und Familien.

Eine Reihe von Arbeiten bringen Themen in Bewegung. Dabei stehen aktuell politische Topoi im Zentrum, die verhandelt werden. Die Tanzperformance „Rock wie Hose“ (2016, 5+) von Celestine Hennermann hinterfragt spielerisch stereotype Geschlechterzuschreibungen und wirbelt sie dabei durcheinander. In „TRASHedy“ (2012, 8+), ein Stück über das Thema Müll und Globalisierung von Leandro Kees, erklären, erzählen, fantasieren, fragen, bewegen, zeigen und zeichnen die beiden Tänzer, die von sich in der eigenen Person sprechen. Silke Z thematisiert in „Like a popsong“ (2015,13+) den Wunsch nach Popularität und Beliebtheit; dabei arbeiten jugendliche ‚Laien‘ und Profis an den Grenzen der Preisgabe von Persönlichem auf der Bühne als öffentlicher Ort.

Eine andere Erzählstrategie verfolgen Stücke wie „Ich bin’s, deine Schwestern“ (2016, 5+) von Martin Nachbar und Gabi dan Droste, die grundsätzliche Themen wie Geschwister bearbeiten; sie vertanzen sie nicht als Geschichte, sondern bringen verschiedene Geschwisterkonstellationen auf die Bühne und untersuchen so das Wechselspiel von geschwisterlicher Nähe und Konkurrenz, Schutz und Distanz, Liebe und Kampf. Franziska Henschel geht in „fühlende fische“ (2015, 5+) der Frage nach, wie und wo sich ein Gefühl, im gesamten Körper lokalisieren lässt und mit „Nimmer“ (2014) geht Antje Pfundtner dem Verschwinden und Erscheinen auf die Spur. Diese Arbeiten erzeugen offene, nicht-lineare Erzählstrukturen für eigene Interpretationen.

Die Zukunft des Jungen Tanzes? Zwei Thesen

Junge Künstler_innen heute verfügen über eine Freiheit in gesetzten Mitteln und Tech- niken. Aktuelle Entwicklungen in der Tanzszene zeigen die Nähe des zeitgenössischen Tanzes zu den Live und Performance Arts, die Verwendung von Forschungs- formen, Kampfsportarten, somatischen Methoden und Techniken wie Contact oder Yoga. Diese Trends haben in der Ausbildung einen hohen Stellenwert wie auch in den Szenen der Großstädte wie Frankfurt, Hamburg und Berlin, in die junge Menschen aus Europa und der ganzen Welt strömen. Langfristig werden diese Trends auch die Tanzkunst für junges Publikum verändern.

Heranwachsende heute sind Co-Creators. Sie erfinden, inszenieren und kommentie- ren sich selbst, ihre Rezeptions- und Produktionsweisen verändern sich grundlegend. Am Tanzhaus NRW wird derzeit mit dem für die deutsche Szene neuartigen Projekt Cliffdancers untersucht inwieweit die filmische Narrationstechnik des Cliffhangers geeignet ist, um auf ihrer Basis zeitgenössische Tanzperformances für ein junges Publi- kum zu entwickeln. Düsseldorfer Schüler_innen kreieren gemeinsam mit einem Team von Choreografen und Tänzern, Wissenschaftlern und Medienkünstlern, Bloggern und Gamedesignern eine Fan Fiction, die sie in von ihnen genutzten Plattformen und Me- dien mittels Snap-Chats, Instagram-Aktionen oder YouTube-Tutorials verbreiten. Ihre Ergebnisse präsentieren sie im Rahmen der Bühnenpremiere.

Zukunftsweisende Entwicklungen. Inspiration erhielten die darstellenden Künste für junges Publikum aus der Begegnung und Auseinandersetzung mit Kindern, Jugendli- chen und jungen Erwachsenen, das machen sie noch immer.

© Gabi dan Droste

Der Text ist in englischer Sprache erschienen in IXYPSILONZETT Magazin für Kinder- und Jugendtheater, Heft 1, 2017. IXYPSILONZETT ist eine Veröffentlichung im Verlag Theater der Zeit.

PERSPEKTIVE KUNST Kritische Anmerkungen zur Allianz von Kunst, Bildung und Kindern

Kritische Anmerkungen zur Allianz von Kunst, Bildung und Kindern

Kulturelle Bildung ist für viele Künstler_innen ein rotes Tuch. Ganz praktisch gesehen fürchten etliche, dass sie die Arbeit in Projekten der Kulturellen Bildung von ihrem ‚eigentlichen‘ künstlerischen Schaffen abhält, oder dass sie einem ominösen Monster dienen, welches mit Vielem zu tun hat, nur nicht mit Kunst. Hinter dieser Abwehr verbirgt sich jedoch auch das Postulat der Künstler_innen nach einem Zugeständnis der Autonomie von Kunst und der Zweckfreiheit des Kunstschaffens. Dieser Forderung wird im gleichen Atemzug immer auch der Zweifel an der gesellschaftlichen Relevanz von freier Kunst entgegengehalten. Eine Debatte über die Frage, was Kunst und Kulturelle Bildung miteinander zu tun haben, welche Qualitätskriterien von der Kunst aus in diesem Diskurs benannt werden und wie sich Künstler_innen mit welchen Mitteln selbst verorten könnten, tut not.

… nicht von der Kunst her gedacht.

Unschärfe des Begriffs Kulturelle Bildung

Der Begriff Kulturelle Bildung ist unscharf, er ist ein „Containerbegriff“ (Bockhorst/Reinwand/Zacharias 2012). In ihm versammeln sich diverse Vorstellungen, und er umfasst das gesamte Feld der Schnittmenge von Kultur und Bildung: „Kulturelle Bildung (meint) einerseits den subjektiven Bildungsprozess jedes einzelnen wie auch die Strukturen eines Bildungsfeldes mit seinen zahlreichen Angeboten.“ (ebd, a.a.O.) Die Spannbreite dieser Angebote erstreckt sich von Projekten, die zu Ausbildungszwecken durchgeführt werden wie das DM – Programm Abenteuer Kultur, über Projekte, die in die Kategorie audience development gehören bis hin zu Inszenierungen mit Kindern oder Jugendlichen, die in die Spielpläne aufgenommen werden. Oftmals werden auch professionelle Produktionen für junges Publikum der Kulturellen Bildung zugeordnet.

Instrumentelles Qualitätsverständnis von künstlerischer Arbeit

Leistungsanforderungen, die an die Durchführung von Kulturellen Bildungsprojekten gestellt werden, und auch Projektauswertungen zielen zumeist auf Qualitäten, die nicht-künstlerischen Begründungszusammenhängen entspringen. So setzen sie z.B. auf die sozialen Kompetenzen der Teilnehmenden, deren Team- und Kommunikationsfähigkeit gestärkt und deren interkulturellen Kompetenzen trainiert werden sollen Diese Aspekte wechseln, sie tauchen zu bestimmten Zeiten auf und sind für bestimmte Zwecke dienlich, sie entsprechen solchen, die im öffentlichen Diskurs jeweils brisant sind und: sie nehmen stetig zu. Die Professorin der Theaterpädagogik Ulrike Hentschel spricht hier kritisch vom „Theater als Kompetenztrainer.“ (Hentschel 2008)

Die Unschärfe des Begriffes Kulturelle Bildung wie auch die Legitimierung der Arbeit aus nicht-künstlerischen Begründungszusammenhängen führen zu völlig überbordenden Erwartungen von dem was ein_e Künstler_in mit ihrer / seiner Arbeit leisten soll und kann. Sie führen auch zu einem rein instrumentellen Qualitätsverständnis von Kunst. Die Verwertbarkeit und Brauchbarkeit von Erfolgen, Erreichtem und Nachweisbarem für außer-künstlerische Zwecke stehen an allererster Stelle.

… von der Kunst her gedacht! Kunst als inhaltlicher Bezugsrahmen.

Künstlerisches Wissen bildet allerdings das Fundament für künstlerische Vermittlung und ist Voraussetzung für das Gelingen von Projekten in der Kulturellen Bildung. Die Künste selbst müssten den inhaltlichen Bezugsrahmen darstellen: „Daraus können Qualitätsmerkmale hervorgehen, die über ein rein instrumentelles Qualitätsverständnis hinausreichen.“ (Rat Kulturelle Bildung 2014)

In diesem Diskurs über die Künste als inhaltlicher Bezugsrahmen sollten Künstler_innen das Potential und die Grenzen ihrer Arbeit erforschen, beschreiben und formulieren. Durch einen gemeinsamen Verständigungsprozess sollten Klarheit und Trennschärfe zu anderen nicht-künstlerischen Diskursen hervorgebracht werden. An aller erster Stelle sollten hier zwei klare Formulierungen stehen:

– jedwede (zweckfreie) Bereitstellung einer Möglichkeit zu künstlerischem Schaffen ist bereits ein Wert für sich,

– ästhetische Erfahrungen und künstlerische Schaffen(-sprozesse) von Menschen folgen der Gesetzlichkeit der Eigenzeit, die sich sich der direkten Verwertung, einem Vorher-Nachher-Schema entziehen.

… von der Kunst her gedacht? Vom Kind her gedacht.

Kunstschaffen als Vermittlungsprozess

Kunst ist kein naturwüchsiger Zustand. Ihre Zeichensetzungen, Symbolisierungen, Verdichtungen, Materialien etc. sind komplex. Sie müssen kennengelernt und erlernt werden. Kunst mit Kindern ist immer auch ein Vermittlungsprozess. Sie ist eine Mediation vom Erwachsenen in Richtung Kind. „… der Ansatz der künstlerischen Arbeit mit den Schülern ist derselbe wie mit Profis, aber die Kommunikation darüber muss eine andere sein.“ (Wiebke Dröge in: Leitfaden Bundesverband Tanz in Schulen o.J.)

Urbegabung Künstler_in

Künstler_innen haben oft einen unmittelbaren und nicht-strategischen Zugang zu Heranwachsenden. Aber sie sind nicht automatisch pädagogische Urbegabungen. „Die generelle Unterstellung einer pädagogischen Genialität der Künstler führt letztlich nur dazu, dass über deren erzieherisches Handeln nicht weiter nachgedacht wird.“ (Rat Kulturelle Bildung 2013)

Asymmetrisches Verhältnis

Erwachsene und Kinder befinden sich immer in einem asymmetrischen (Macht-)Verhältnis zueinander.

Auch in der Perspektive Kunst muss einem Nachdenken über Qualitätskriterien in der Arbeit mit Heranwachsenden sowohl die kritische Selbstreflektion der eigenen Position als Erwachsener in Relation zum Kind / Jugendlichen einhergehen wie auch die Reflektion der Relevanz von Strategien der Selbstermächtigung und von Selbstbildungsprozessen der beteiligten (Kinder oder Jugendlichen). Die pädagogische Bedeutung künstlerischer Prozesse für Kinder und das Vermögen künstlerisches Handeln in pädagogischen Prozessen produktiv zu machen, sind wertvolle Kenntnisse für eine tatsächliche Begegnung von (erwachsenen) Künstler_innen und Heranwachsenden auf Augenhöhe.

… von der Kunst her gedacht! 5 Thesen zu möglichen Qualitätskriterien aus der Perspektive Kunst

Theater Kunst Bildung I: Kunst hat mit Freiheit und (freiem) Spiel zu tun. Sie kreiert Frei-Räume.

In zahlreichen zeitgenössischen Inszenierungen für Kinder wie in Le jardin possible (1+) von Benoit Sicat gestalten Künstler_innen einen Rahmen, in denen Kinder selbstbestimmt Theater erleben können.

Diesem Prinzip folgt auch das mit Kindern realisierte Projekt leaf duett von Henrik Leban und Kaja Lindal. Ihre Beobachtung, dass das Leben von Kindern durch viele Regeln bestimmt wird, initiierte den Wunsch, einen Rahmen zu kreieren, in dem Kinder ‚einfach nur‘ spielen können – das Ergebnis ist ein intelligentes Setting, eine multimediale Performance, in dem Kinder als Zuschauer_innen und Teilnehmer_innen agieren. Das Basisprinzip besteht aus vorproduziertem Videomaterial und aus einer Live-Video-Übertragung, bei der Kinder entdecken, dass Tanzen in Blättern ein Gefühl von Freiheit sowie Energie und Begeisterung hervorruft.

Ab Minute 10

Mit dieser künstlerischen Strategie schaffen Künstler_innen einen Rahmen, in dem Kinder Kunst selbstbestimmt erleben, eigenen Erfindungen und eigenen Empfindungen nachgehen können. So eröffnen sie auf spielerische Weise und mit Spiel(-en) Freiräume. Auf diese Weise ermöglichen sie ein gemeinschaftliches Erleben, in dem sie zugleich dem individuellen, eigenen Erleben Raum geben. Es entsteht ein Frei-Raum.

Theater Kunst Bildung II: Theater ist ein besonderer Raum für Kommunikation. Es schafft partizipative Räume.

Theater ist die Kunst der Begegnung von Menschen. Menschen kommen an einem Ort zusammen, um gemeinsam mit anderen etwas zu teilen. Theater ist geteilte Erfahrung und Kommunikation. Erst die körperliche, gleichzeitige Anwesenheit von Akteuren und Zuschauer_innen konstituiert eine Aufführung. Sie ereignet sich zwischen den Anwesenden und wird von ihnen gemeinsam hervorgebracht. (vgl. Fischer-Lichte) Jugendliche heute sind Co-Creators. Sie erfinden, inszenieren und kommentieren sich selbst. Nicht erst seitdem interaktive Medien die alltägliche Kommunikation prägen. Kinder wiederum sind im Spiel schon immer Schöpfer. „Zeitgenössische Theaterformen für junges Publikum begreifen die Zuschauenden als aktiv Teilnehmende an einem künstlerischen Ereignis“ (Droste/Burgschuld 2014) und entwickeln partizipative künstlerische Strategien.

Theater Kunst Bildung III: Kunst hat mit Forschung zu tun. Sie kreiert utopische Räume.

Die zeitgenössische Kunst hat sich längst wegentwickelt von der reinen Präsentation von Ergebnissen. Kunst ist zur Werkstatt geworden, zum Laboratorium. Prozesse und (künstlerische) Forschung sind elementare Bestandteile des heutigen Kunstverständnisses. Forschung und Welterkundung stellen im besonderen Maße eine korrespondierende Ebene zwischen der Art und Weise wie Kinder ihre Umwelt wahrnehmen und entdecken und künstlerischen Strategien her.

Im Forschungstheater am Fundustheater arbeiten die Künstler_innen „mit szenischem Verfahren, weil wir glauben, dass sie Brücken bauen können zwischen alltäglichem Forschen, auch kindlichem Forschen und dem was wir so normalerweise so Forschung zu nennen gewöhnt sind.“ (Sibylle Peters) Forschen zielt auf das Erforschen und Begreifen von gegebenen Zusammenhängen. Es impliziert aber auch das Ausloten von neuen Konstellationen, (noch) nicht Gedachtem und die Erfindung von Neuem. Forschung sind Zukunft und Utopisches eingeschrieben.

Theater Kunst Bildung IV: Theater hat mit Öffentlichkeit / Gesellschaft zu tun. Es erzeugt alternative Räume.

Beim BrachenBrunch sammeln Schüler_innen in einer Brache Müll, den sie zu Skulpturen formen, Flora und Fauna finden Eingang in eine Biokartei, Brotdosen werden Teil eines sozialen Diagramms. Aus den Aktionen kreieren sie gemeinsam mit dem Kulturingenieur Felix Liebig eine Performance.

 

Theater ist ein Ort der Gesellschaft in der Gesellschaft, an dem sich in Gesellschaft über Gesellschaft ästhetisch reflektieren lässt. …“ so brachte es der Dramaturg Ulf Schmidt in seinem Vortrag beim Branchentreffen der Freien Szene in Berlin letzten Jahres auf den Punkt. Oder wie es Hans-Thies Lehmann ausdrückte: „Ein Ort der Versammlung, dem das Politische strukturell eingeschrieben ist.“ (Lehmann 2002)

Als Sinnbild hierfür sei das kitchenmonument von raumlabor.berlin genannt: eine aufblasbare Hülle aus transparentem Material, in der Versammlungen stattfinden können. Hier wie auch beim BrachenBrunch transformieren die Beteiligten mit ihrer Intervention einen realen, öffentlichen Raum in einen anderen. Sie entwerfen damit Räume der Unterbrechung (Kristin Westphal) und andere (öffentliche) Orte.

Theater Kunst Bildung V: Kunst / freies Theater hat mit Arbeitsstrukturen zu tun. Es arbeitet mit Räumen der Autonomie.

Eine herausragende Besonderheit der Arbeitsstrukturen im Freien Theater sind die flachen Hierarchien und das Arbeiten in kollektiven Strukturen. Selbstwirksamkeit und Empowerment spielen dabei eine wesentliche Rolle.

In Projekten wie Haircuts by children von Darren O’Donnel wird das Machtverhältnis von Erwachsenen und Kindern auf den Kopf gestellt. In The Children’s Choice Awards bei der Ruhrtriennale 2014 werden Kinder ermächtigt, (Jury-)Postionen einzunehmen. Sie sind gefragt, ihre Beurteilungen öffentlich zu äußern. Diese Projekte thematisieren und anerkennen den generationalen Unterschied zwischen Erwachsenem und Kind.

… von der Kunst her gedacht. Von Künstler_innen.

Will Kunst sich aus der Umklammerung durch das ‚ominöse Monster‘ befreien, will sie ein Ort sein, der zweckfrei ist, der Frei-Raum bietet, utopische Ansätze und andere Orte reflektiert, noch nicht Gedachtem Raum geben will – auch und gerade zusammen mit Kindern und Jugendlichen – dann müssen Künstler_innen ihre Deutungshoheit über Inhalte und über Kunst in der Kulturellen Bildung wieder an sich nehmen. Sie müssen (sich) Fragen stellen wie Frei-Räume und Neues entstehen oder was wir tatsächlich in einer Probe auf die Probe stellen – Fiktion? Realität? Es gäbe viele Fragen.

Dabei müsste auch das Wie? der Erforschung geklärt und kunsteigene Wege ausgelotet werden. In den Künsten hat sich eine Vielzahl neuer Strategien der Wissensgenerierung wie kollaborative Formate, lebendige Archive, dokumentarische Performances etc. entwickelt. Künstlerisch ausgerichtete Verfahren wie z.B. künstlerische (Forschungs-)Labore sind mögliche Formate. Sie sind in besonderem Maße geeignet die in den Projekten der Kulturellen Bildung gemachten Erfahrungen, inkorporiertes künstlerisches Wissen zum Vorschein zu bringen. Performative research unterliegt einer Wirklichkeit, die sich „auf der Basis präsentativer Symbole herausbildet“ (Seitz). Das Wissen, das sich hier kundtut, ist eines, das in der Praxis liegt, sich als Praxis und in der Praxis zeigt. Es ist an Handlung gebunden und nicht an einen abstrakten Diskurs.

© Gabi dan Droste, Juni 2015

Dieser Text ist im Auftrag des Bundesverbandes Freie Darstellende Künste entstanden, er erschien in einer gekürzten Fassung in: neue realitäten. Jahrbuch des Bundesverband Freie Darstellende Künste 2014/15. Hg. v. Bundesverband Freie Darstellende Künste e.V. Berlin 2015. Geheftet, 56 Seiten. (ISBN 978-3-935486-21-7) Heft bestellen hier

HEIMLICHE REVOLUTIONÄRE Ein Spaziergang durch das 2. Tanztreffen der Jugend

Dieser Text entstand nach meinem Besuch des 2. Tanztreffens der Jugend in Berlin im Herbst 2015

„3–1“, und dann: „1–2–1“, und dann wieder: „1–1–2“, rufen die Tänzerinnen Sophie Camille Brunner und Kaya Kolodziejczyk den Jugendlichen immer wieder zu. Sie studieren beharrlich eine Choreografie von Rosas danst Rosas auf der imposanten Großen Bühne des Hauses der Berliner Festspiele ein. Sie wiederholen die Bewegungen, die auf schier unendliche Weise immer wieder neu kombiniert werden können. Auf einem großen Blatt zum Ablesen ist die Kombinationsstruktur aufgeschrieben. Hinter den jungen Tänzer_innen ist der eiserne Vorhang hochgezogen, der Blick fällt in den Zuschauerraum der Großen Bühne mit seinen 999 Plätzen. Ein beindruckendes Szenario. Vor den Tanzenden: ein Kamerateam. Es filmt den ganzen Tag. Es zeichnet alles so auf, dass eine eigene Version der Choreografie entsteht, die als Tanz-Video auf der Projekt-Site Re:Rosas eingestellt wird.

Hier üben 60 Jugendliche, 11 bis 23 Jahre alt, Millennials, um die Jahrtausendwende Geborene, viele Mädchen und junge Frauen, ein paar Jungs und junge Männer – sie alle nehmen am Tanztreffen der Jugend der Berliner Festspiele teil, sie alle vereint eine gemeinsame Leidenschaft: tanzen.

Christina Schulz, Leiterin des Treffens, erzählt mir, dass die Festspiele das Tanztreffen ins Leben gerufen haben, da es bis zu seiner Gründung 2014 keinen Ort für Heranwachsende in Deutschland gab, an dem zeitgenössischer Tanz im Mittelpunkt stehe: „Also kein Ballett, kein Hip Hop, keine Standardtänze, kein Musical, kein … – zeitgenössisch!“, denke ich. Ein Katalog von Fragen rattert durch meinen Kopf. Ist die außergewöhnliche, minimalistische, in den 80er-Jahren entstandene Arbeit von Anne Teresa de Keersmaeker, die mittlerweile tradierter Teil der Tanz-Geschichte ist, für die Jugendlichen zeitgenössisch? Man kennt den Plagiatsvorwurf an den Popstar Beyoncé im Jahr 2011 – sicherlich motiviert die Idee des Tanz-Videos Heranwachsende, sich zeitgenössische Tanz-Kunst einzuverleiben, überlege ich anerkennend. Und dann schleicht sich ein kleines „Warum?“ ein. Was heißt zeitgenössisch für eine Generation, die wie keine andere von sich behaupten kann, dass sie die ‚zeitgenössische‘, die gegenwärtige sei? Zu Hause angekommen klick ich mich durch die derzeit aktuellen Top Ten auf YouTube: Songs von Ellie Goulding, Felix Jaehn, Sido, Sigala, Namika, Louane, Glasperlenspiel und Adele. Viel Tanz und Groove, viel Sex und Hips und Hipsters – vermarktete Jugendlichkeit oder quirlig lebendiges Zeugnis von Heute? Was heißt zeitgenössisch, wenn Jugendlichkeit und junge Körper ein gesamtgesellschaftliches Ideal sind und wenn, wie zum Beispiel auf der letzten Fashion Week in Berlin, man 16-Jährige Kleidung präsentieren lässt, die von Mittdreißigern gekauft wird?

(…)

Auf der Bühne bleibt während der ganzen Woche der Teenage Riot aus, es wird kein Stein geschmissen, keine Messerspitze in die Haut geritzt oder Körper gegen die Wand gedonnert, es gibt keinen Cyberspace oder digitalen Overflow, keine Texte gegen die Ohnmacht in Zeiten der Globalisierung und weltweiten Katastrophen. Stattdessen leise und intensive Töne über menschliche Sucht- und Sehnsuchts-Abgründe, über eine andere, offene, ohne gesellschaftlichen Druck funktionierende Wünsch-Wunder-Welt. Oder aber eklektischer Mediengebrauch, der eine zusammengestückelte Welt mit Bewegungen und Musik aus Film- und Musikwelt ergibt wie bei „Tabi“, einer Recherchearbeit zum Thema Japan vom Tanzhaus NRW Düsseldorf. Die Woche erstreckt sich vom Thema (körperliche) Identität, wie in „Selbstbaukasten“ der tjg.theaterakademie Dresden, über Kontakt in „Dritte Art“ des Tanzstudios Danzon in Tübingen bis hin zu im Raum angesiedelten, regelgeleiteten Improvisationen zu verschiedenen Energiezuständen in „Feuerblume“ der Kindertanzcompagnie Sasha Waltz & Guests. Alle beim Treffen gezeigten Arbeiten sind Stückentwicklungen. Auf der Bühne bleibt während der ganzen Woche der Flash Mob aus, keine Fernseh-Show-Parodie, kein Partizipationsspiel … es wird getanzt: auf der Bühne, es wird zugeschaut: im Zuschauerraum. Es wird frenetisch geklatscht. Und aftershow: wird kollegial gestritten und eine Menge Spaß gehabt.

Eigentlich ganz erschreckend: dunkle Stücke ohne Aufschrei – ist das nun doch die Ohnmacht, dass man noch nicht mal mehr schreien kann?

Diese Frage blitzt für einen Moment auf, als ich die letzte Aufführung in meiner Woche beim Tanztreffen zusammen mit meinen Töchtern und ihren Freunden sehe. Alle sind Anfang zwanzig, eine lustige Runde mit kanadischen, italienischen, kurdischen und rheinländischen Wurzeln. Meine Denke sei ihnen zu politisch, meinen sie. Sie selbst seien nicht unpolitisch. Für sie sei das alles eher eine Frage von Konsum, Ethik oder Lifestyle und nicht von einer zu verändernden Gesellschaftsordnung. Sie wollen nach ihren eigenen Vorstellungen leben. Sie sind noch verabredet, checken die Adresse von dem Club in Kreuzkölln aus – ich bleibe noch einen Moment bei einem Bier sitzen und schaue in die Runde, zu den Tischen, an denen die jungen Talente sitzen. Vielleicht macht genau diese Haltung sie zu heimlichen Revolutionären, die auf ihre Weise auch den Tanz verändern.

Dieser Text ist im Auftrag der Berliner Festspiele entstanden. Kompletter Text hier

© Gabi dan Droste, Januar 2016

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