Dieser Text entstand nach meinem Besuch des 2. Tanztreffens der Jugend in Berlin im Herbst 2015
„3–1“, und dann: „1–2–1“, und dann wieder: „1–1–2“, rufen die Tänzerinnen Sophie Camille Brunner und Kaya Kolodziejczyk den Jugendlichen immer wieder zu. Sie studieren beharrlich eine Choreografie von Rosas danst Rosas auf der imposanten Großen Bühne des Hauses der Berliner Festspiele ein. Sie wiederholen die Bewegungen, die auf schier unendliche Weise immer wieder neu kombiniert werden können. Auf einem großen Blatt zum Ablesen ist die Kombinationsstruktur aufgeschrieben. Hinter den jungen Tänzer_innen ist der eiserne Vorhang hochgezogen, der Blick fällt in den Zuschauerraum der Großen Bühne mit seinen 999 Plätzen. Ein beindruckendes Szenario. Vor den Tanzenden: ein Kamerateam. Es filmt den ganzen Tag. Es zeichnet alles so auf, dass eine eigene Version der Choreografie entsteht, die als Tanz-Video auf der Projekt-Site Re:Rosas eingestellt wird.
Hier üben 60 Jugendliche, 11 bis 23 Jahre alt, Millennials, um die Jahrtausendwende Geborene, viele Mädchen und junge Frauen, ein paar Jungs und junge Männer – sie alle nehmen am Tanztreffen der Jugend der Berliner Festspiele teil, sie alle vereint eine gemeinsame Leidenschaft: tanzen.
Christina Schulz, Leiterin des Treffens, erzählt mir, dass die Festspiele das Tanztreffen ins Leben gerufen haben, da es bis zu seiner Gründung 2014 keinen Ort für Heranwachsende in Deutschland gab, an dem zeitgenössischer Tanz im Mittelpunkt stehe: „Also kein Ballett, kein Hip Hop, keine Standardtänze, kein Musical, kein … – zeitgenössisch!“, denke ich. Ein Katalog von Fragen rattert durch meinen Kopf. Ist die außergewöhnliche, minimalistische, in den 80er-Jahren entstandene Arbeit von Anne Teresa de Keersmaeker, die mittlerweile tradierter Teil der Tanz-Geschichte ist, für die Jugendlichen zeitgenössisch? Man kennt den Plagiatsvorwurf an den Popstar Beyoncé im Jahr 2011 – sicherlich motiviert die Idee des Tanz-Videos Heranwachsende, sich zeitgenössische Tanz-Kunst einzuverleiben, überlege ich anerkennend. Und dann schleicht sich ein kleines „Warum?“ ein. Was heißt zeitgenössisch für eine Generation, die wie keine andere von sich behaupten kann, dass sie die ‚zeitgenössische‘, die gegenwärtige sei? Zu Hause angekommen klick ich mich durch die derzeit aktuellen Top Ten auf YouTube: Songs von Ellie Goulding, Felix Jaehn, Sido, Sigala, Namika, Louane, Glasperlenspiel und Adele. Viel Tanz und Groove, viel Sex und Hips und Hipsters – vermarktete Jugendlichkeit oder quirlig lebendiges Zeugnis von Heute? Was heißt zeitgenössisch, wenn Jugendlichkeit und junge Körper ein gesamtgesellschaftliches Ideal sind und wenn, wie zum Beispiel auf der letzten Fashion Week in Berlin, man 16-Jährige Kleidung präsentieren lässt, die von Mittdreißigern gekauft wird?
(…)
Auf der Bühne bleibt während der ganzen Woche der Teenage Riot aus, es wird kein Stein geschmissen, keine Messerspitze in die Haut geritzt oder Körper gegen die Wand gedonnert, es gibt keinen Cyberspace oder digitalen Overflow, keine Texte gegen die Ohnmacht in Zeiten der Globalisierung und weltweiten Katastrophen. Stattdessen leise und intensive Töne über menschliche Sucht- und Sehnsuchts-Abgründe, über eine andere, offene, ohne gesellschaftlichen Druck funktionierende Wünsch-Wunder-Welt. Oder aber eklektischer Mediengebrauch, der eine zusammengestückelte Welt mit Bewegungen und Musik aus Film- und Musikwelt ergibt wie bei „Tabi“, einer Recherchearbeit zum Thema Japan vom Tanzhaus NRW Düsseldorf. Die Woche erstreckt sich vom Thema (körperliche) Identität, wie in „Selbstbaukasten“ der tjg.theaterakademie Dresden, über Kontakt in „Dritte Art“ des Tanzstudios Danzon in Tübingen bis hin zu im Raum angesiedelten, regelgeleiteten Improvisationen zu verschiedenen Energiezuständen in „Feuerblume“ der Kindertanzcompagnie Sasha Waltz & Guests. Alle beim Treffen gezeigten Arbeiten sind Stückentwicklungen. Auf der Bühne bleibt während der ganzen Woche der Flash Mob aus, keine Fernseh-Show-Parodie, kein Partizipationsspiel … es wird getanzt: auf der Bühne, es wird zugeschaut: im Zuschauerraum. Es wird frenetisch geklatscht. Und aftershow: wird kollegial gestritten und eine Menge Spaß gehabt.
Eigentlich ganz erschreckend: dunkle Stücke ohne Aufschrei – ist das nun doch die Ohnmacht, dass man noch nicht mal mehr schreien kann?
Diese Frage blitzt für einen Moment auf, als ich die letzte Aufführung in meiner Woche beim Tanztreffen zusammen mit meinen Töchtern und ihren Freunden sehe. Alle sind Anfang zwanzig, eine lustige Runde mit kanadischen, italienischen, kurdischen und rheinländischen Wurzeln. Meine Denke sei ihnen zu politisch, meinen sie. Sie selbst seien nicht unpolitisch. Für sie sei das alles eher eine Frage von Konsum, Ethik oder Lifestyle und nicht von einer zu verändernden Gesellschaftsordnung. Sie wollen nach ihren eigenen Vorstellungen leben. Sie sind noch verabredet, checken die Adresse von dem Club in Kreuzkölln aus – ich bleibe noch einen Moment bei einem Bier sitzen und schaue in die Runde, zu den Tischen, an denen die jungen Talente sitzen. Vielleicht macht genau diese Haltung sie zu heimlichen Revolutionären, die auf ihre Weise auch den Tanz verändern.
Dieser Text ist im Auftrag der Berliner Festspiele entstanden. Kompletter Text hier
© Gabi dan Droste, Januar 2016