PERSPEKTIVE KUNST Kritische Anmerkungen zur Allianz von Kunst, Bildung und Kindern

Kritische Anmerkungen zur Allianz von Kunst, Bildung und Kindern

Kulturelle Bildung ist für viele Künstler_innen ein rotes Tuch. Ganz praktisch gesehen fürchten etliche, dass sie die Arbeit in Projekten der Kulturellen Bildung von ihrem ‚eigentlichen‘ künstlerischen Schaffen abhält, oder dass sie einem ominösen Monster dienen, welches mit Vielem zu tun hat, nur nicht mit Kunst. Hinter dieser Abwehr verbirgt sich jedoch auch das Postulat der Künstler_innen nach einem Zugeständnis der Autonomie von Kunst und der Zweckfreiheit des Kunstschaffens. Dieser Forderung wird im gleichen Atemzug immer auch der Zweifel an der gesellschaftlichen Relevanz von freier Kunst entgegengehalten. Eine Debatte über die Frage, was Kunst und Kulturelle Bildung miteinander zu tun haben, welche Qualitätskriterien von der Kunst aus in diesem Diskurs benannt werden und wie sich Künstler_innen mit welchen Mitteln selbst verorten könnten, tut not.

… nicht von der Kunst her gedacht.

Unschärfe des Begriffs Kulturelle Bildung

Der Begriff Kulturelle Bildung ist unscharf, er ist ein „Containerbegriff“ (Bockhorst/Reinwand/Zacharias 2012). In ihm versammeln sich diverse Vorstellungen, und er umfasst das gesamte Feld der Schnittmenge von Kultur und Bildung: „Kulturelle Bildung (meint) einerseits den subjektiven Bildungsprozess jedes einzelnen wie auch die Strukturen eines Bildungsfeldes mit seinen zahlreichen Angeboten.“ (ebd, a.a.O.) Die Spannbreite dieser Angebote erstreckt sich von Projekten, die zu Ausbildungszwecken durchgeführt werden wie das DM – Programm Abenteuer Kultur, über Projekte, die in die Kategorie audience development gehören bis hin zu Inszenierungen mit Kindern oder Jugendlichen, die in die Spielpläne aufgenommen werden. Oftmals werden auch professionelle Produktionen für junges Publikum der Kulturellen Bildung zugeordnet.

Instrumentelles Qualitätsverständnis von künstlerischer Arbeit

Leistungsanforderungen, die an die Durchführung von Kulturellen Bildungsprojekten gestellt werden, und auch Projektauswertungen zielen zumeist auf Qualitäten, die nicht-künstlerischen Begründungszusammenhängen entspringen. So setzen sie z.B. auf die sozialen Kompetenzen der Teilnehmenden, deren Team- und Kommunikationsfähigkeit gestärkt und deren interkulturellen Kompetenzen trainiert werden sollen Diese Aspekte wechseln, sie tauchen zu bestimmten Zeiten auf und sind für bestimmte Zwecke dienlich, sie entsprechen solchen, die im öffentlichen Diskurs jeweils brisant sind und: sie nehmen stetig zu. Die Professorin der Theaterpädagogik Ulrike Hentschel spricht hier kritisch vom „Theater als Kompetenztrainer.“ (Hentschel 2008)

Die Unschärfe des Begriffes Kulturelle Bildung wie auch die Legitimierung der Arbeit aus nicht-künstlerischen Begründungszusammenhängen führen zu völlig überbordenden Erwartungen von dem was ein_e Künstler_in mit ihrer / seiner Arbeit leisten soll und kann. Sie führen auch zu einem rein instrumentellen Qualitätsverständnis von Kunst. Die Verwertbarkeit und Brauchbarkeit von Erfolgen, Erreichtem und Nachweisbarem für außer-künstlerische Zwecke stehen an allererster Stelle.

… von der Kunst her gedacht! Kunst als inhaltlicher Bezugsrahmen.

Künstlerisches Wissen bildet allerdings das Fundament für künstlerische Vermittlung und ist Voraussetzung für das Gelingen von Projekten in der Kulturellen Bildung. Die Künste selbst müssten den inhaltlichen Bezugsrahmen darstellen: „Daraus können Qualitätsmerkmale hervorgehen, die über ein rein instrumentelles Qualitätsverständnis hinausreichen.“ (Rat Kulturelle Bildung 2014)

In diesem Diskurs über die Künste als inhaltlicher Bezugsrahmen sollten Künstler_innen das Potential und die Grenzen ihrer Arbeit erforschen, beschreiben und formulieren. Durch einen gemeinsamen Verständigungsprozess sollten Klarheit und Trennschärfe zu anderen nicht-künstlerischen Diskursen hervorgebracht werden. An aller erster Stelle sollten hier zwei klare Formulierungen stehen:

– jedwede (zweckfreie) Bereitstellung einer Möglichkeit zu künstlerischem Schaffen ist bereits ein Wert für sich,

– ästhetische Erfahrungen und künstlerische Schaffen(-sprozesse) von Menschen folgen der Gesetzlichkeit der Eigenzeit, die sich sich der direkten Verwertung, einem Vorher-Nachher-Schema entziehen.

… von der Kunst her gedacht? Vom Kind her gedacht.

Kunstschaffen als Vermittlungsprozess

Kunst ist kein naturwüchsiger Zustand. Ihre Zeichensetzungen, Symbolisierungen, Verdichtungen, Materialien etc. sind komplex. Sie müssen kennengelernt und erlernt werden. Kunst mit Kindern ist immer auch ein Vermittlungsprozess. Sie ist eine Mediation vom Erwachsenen in Richtung Kind. „… der Ansatz der künstlerischen Arbeit mit den Schülern ist derselbe wie mit Profis, aber die Kommunikation darüber muss eine andere sein.“ (Wiebke Dröge in: Leitfaden Bundesverband Tanz in Schulen o.J.)

Urbegabung Künstler_in

Künstler_innen haben oft einen unmittelbaren und nicht-strategischen Zugang zu Heranwachsenden. Aber sie sind nicht automatisch pädagogische Urbegabungen. „Die generelle Unterstellung einer pädagogischen Genialität der Künstler führt letztlich nur dazu, dass über deren erzieherisches Handeln nicht weiter nachgedacht wird.“ (Rat Kulturelle Bildung 2013)

Asymmetrisches Verhältnis

Erwachsene und Kinder befinden sich immer in einem asymmetrischen (Macht-)Verhältnis zueinander.

Auch in der Perspektive Kunst muss einem Nachdenken über Qualitätskriterien in der Arbeit mit Heranwachsenden sowohl die kritische Selbstreflektion der eigenen Position als Erwachsener in Relation zum Kind / Jugendlichen einhergehen wie auch die Reflektion der Relevanz von Strategien der Selbstermächtigung und von Selbstbildungsprozessen der beteiligten (Kinder oder Jugendlichen). Die pädagogische Bedeutung künstlerischer Prozesse für Kinder und das Vermögen künstlerisches Handeln in pädagogischen Prozessen produktiv zu machen, sind wertvolle Kenntnisse für eine tatsächliche Begegnung von (erwachsenen) Künstler_innen und Heranwachsenden auf Augenhöhe.

… von der Kunst her gedacht! 5 Thesen zu möglichen Qualitätskriterien aus der Perspektive Kunst

Theater Kunst Bildung I: Kunst hat mit Freiheit und (freiem) Spiel zu tun. Sie kreiert Frei-Räume.

In zahlreichen zeitgenössischen Inszenierungen für Kinder wie in Le jardin possible (1+) von Benoit Sicat gestalten Künstler_innen einen Rahmen, in denen Kinder selbstbestimmt Theater erleben können.

Diesem Prinzip folgt auch das mit Kindern realisierte Projekt leaf duett von Henrik Leban und Kaja Lindal. Ihre Beobachtung, dass das Leben von Kindern durch viele Regeln bestimmt wird, initiierte den Wunsch, einen Rahmen zu kreieren, in dem Kinder ‚einfach nur‘ spielen können – das Ergebnis ist ein intelligentes Setting, eine multimediale Performance, in dem Kinder als Zuschauer_innen und Teilnehmer_innen agieren. Das Basisprinzip besteht aus vorproduziertem Videomaterial und aus einer Live-Video-Übertragung, bei der Kinder entdecken, dass Tanzen in Blättern ein Gefühl von Freiheit sowie Energie und Begeisterung hervorruft.

Ab Minute 10

Mit dieser künstlerischen Strategie schaffen Künstler_innen einen Rahmen, in dem Kinder Kunst selbstbestimmt erleben, eigenen Erfindungen und eigenen Empfindungen nachgehen können. So eröffnen sie auf spielerische Weise und mit Spiel(-en) Freiräume. Auf diese Weise ermöglichen sie ein gemeinschaftliches Erleben, in dem sie zugleich dem individuellen, eigenen Erleben Raum geben. Es entsteht ein Frei-Raum.

Theater Kunst Bildung II: Theater ist ein besonderer Raum für Kommunikation. Es schafft partizipative Räume.

Theater ist die Kunst der Begegnung von Menschen. Menschen kommen an einem Ort zusammen, um gemeinsam mit anderen etwas zu teilen. Theater ist geteilte Erfahrung und Kommunikation. Erst die körperliche, gleichzeitige Anwesenheit von Akteuren und Zuschauer_innen konstituiert eine Aufführung. Sie ereignet sich zwischen den Anwesenden und wird von ihnen gemeinsam hervorgebracht. (vgl. Fischer-Lichte) Jugendliche heute sind Co-Creators. Sie erfinden, inszenieren und kommentieren sich selbst. Nicht erst seitdem interaktive Medien die alltägliche Kommunikation prägen. Kinder wiederum sind im Spiel schon immer Schöpfer. „Zeitgenössische Theaterformen für junges Publikum begreifen die Zuschauenden als aktiv Teilnehmende an einem künstlerischen Ereignis“ (Droste/Burgschuld 2014) und entwickeln partizipative künstlerische Strategien.

Theater Kunst Bildung III: Kunst hat mit Forschung zu tun. Sie kreiert utopische Räume.

Die zeitgenössische Kunst hat sich längst wegentwickelt von der reinen Präsentation von Ergebnissen. Kunst ist zur Werkstatt geworden, zum Laboratorium. Prozesse und (künstlerische) Forschung sind elementare Bestandteile des heutigen Kunstverständnisses. Forschung und Welterkundung stellen im besonderen Maße eine korrespondierende Ebene zwischen der Art und Weise wie Kinder ihre Umwelt wahrnehmen und entdecken und künstlerischen Strategien her.

Im Forschungstheater am Fundustheater arbeiten die Künstler_innen „mit szenischem Verfahren, weil wir glauben, dass sie Brücken bauen können zwischen alltäglichem Forschen, auch kindlichem Forschen und dem was wir so normalerweise so Forschung zu nennen gewöhnt sind.“ (Sibylle Peters) Forschen zielt auf das Erforschen und Begreifen von gegebenen Zusammenhängen. Es impliziert aber auch das Ausloten von neuen Konstellationen, (noch) nicht Gedachtem und die Erfindung von Neuem. Forschung sind Zukunft und Utopisches eingeschrieben.

Theater Kunst Bildung IV: Theater hat mit Öffentlichkeit / Gesellschaft zu tun. Es erzeugt alternative Räume.

Beim BrachenBrunch sammeln Schüler_innen in einer Brache Müll, den sie zu Skulpturen formen, Flora und Fauna finden Eingang in eine Biokartei, Brotdosen werden Teil eines sozialen Diagramms. Aus den Aktionen kreieren sie gemeinsam mit dem Kulturingenieur Felix Liebig eine Performance.

 

Theater ist ein Ort der Gesellschaft in der Gesellschaft, an dem sich in Gesellschaft über Gesellschaft ästhetisch reflektieren lässt. …“ so brachte es der Dramaturg Ulf Schmidt in seinem Vortrag beim Branchentreffen der Freien Szene in Berlin letzten Jahres auf den Punkt. Oder wie es Hans-Thies Lehmann ausdrückte: „Ein Ort der Versammlung, dem das Politische strukturell eingeschrieben ist.“ (Lehmann 2002)

Als Sinnbild hierfür sei das kitchenmonument von raumlabor.berlin genannt: eine aufblasbare Hülle aus transparentem Material, in der Versammlungen stattfinden können. Hier wie auch beim BrachenBrunch transformieren die Beteiligten mit ihrer Intervention einen realen, öffentlichen Raum in einen anderen. Sie entwerfen damit Räume der Unterbrechung (Kristin Westphal) und andere (öffentliche) Orte.

Theater Kunst Bildung V: Kunst / freies Theater hat mit Arbeitsstrukturen zu tun. Es arbeitet mit Räumen der Autonomie.

Eine herausragende Besonderheit der Arbeitsstrukturen im Freien Theater sind die flachen Hierarchien und das Arbeiten in kollektiven Strukturen. Selbstwirksamkeit und Empowerment spielen dabei eine wesentliche Rolle.

In Projekten wie Haircuts by children von Darren O’Donnel wird das Machtverhältnis von Erwachsenen und Kindern auf den Kopf gestellt. In The Children’s Choice Awards bei der Ruhrtriennale 2014 werden Kinder ermächtigt, (Jury-)Postionen einzunehmen. Sie sind gefragt, ihre Beurteilungen öffentlich zu äußern. Diese Projekte thematisieren und anerkennen den generationalen Unterschied zwischen Erwachsenem und Kind.

… von der Kunst her gedacht. Von Künstler_innen.

Will Kunst sich aus der Umklammerung durch das ‚ominöse Monster‘ befreien, will sie ein Ort sein, der zweckfrei ist, der Frei-Raum bietet, utopische Ansätze und andere Orte reflektiert, noch nicht Gedachtem Raum geben will – auch und gerade zusammen mit Kindern und Jugendlichen – dann müssen Künstler_innen ihre Deutungshoheit über Inhalte und über Kunst in der Kulturellen Bildung wieder an sich nehmen. Sie müssen (sich) Fragen stellen wie Frei-Räume und Neues entstehen oder was wir tatsächlich in einer Probe auf die Probe stellen – Fiktion? Realität? Es gäbe viele Fragen.

Dabei müsste auch das Wie? der Erforschung geklärt und kunsteigene Wege ausgelotet werden. In den Künsten hat sich eine Vielzahl neuer Strategien der Wissensgenerierung wie kollaborative Formate, lebendige Archive, dokumentarische Performances etc. entwickelt. Künstlerisch ausgerichtete Verfahren wie z.B. künstlerische (Forschungs-)Labore sind mögliche Formate. Sie sind in besonderem Maße geeignet die in den Projekten der Kulturellen Bildung gemachten Erfahrungen, inkorporiertes künstlerisches Wissen zum Vorschein zu bringen. Performative research unterliegt einer Wirklichkeit, die sich „auf der Basis präsentativer Symbole herausbildet“ (Seitz). Das Wissen, das sich hier kundtut, ist eines, das in der Praxis liegt, sich als Praxis und in der Praxis zeigt. Es ist an Handlung gebunden und nicht an einen abstrakten Diskurs.

© Gabi dan Droste, Juni 2015

Dieser Text ist im Auftrag des Bundesverbandes Freie Darstellende Künste entstanden, er erschien in einer gekürzten Fassung in: neue realitäten. Jahrbuch des Bundesverband Freie Darstellende Künste 2014/15. Hg. v. Bundesverband Freie Darstellende Künste e.V. Berlin 2015. Geheftet, 56 Seiten. (ISBN 978-3-935486-21-7) Heft bestellen hier

HEIMLICHE REVOLUTIONÄRE Ein Spaziergang durch das 2. Tanztreffen der Jugend

Dieser Text entstand nach meinem Besuch des 2. Tanztreffens der Jugend in Berlin im Herbst 2015

„3–1“, und dann: „1–2–1“, und dann wieder: „1–1–2“, rufen die Tänzerinnen Sophie Camille Brunner und Kaya Kolodziejczyk den Jugendlichen immer wieder zu. Sie studieren beharrlich eine Choreografie von Rosas danst Rosas auf der imposanten Großen Bühne des Hauses der Berliner Festspiele ein. Sie wiederholen die Bewegungen, die auf schier unendliche Weise immer wieder neu kombiniert werden können. Auf einem großen Blatt zum Ablesen ist die Kombinationsstruktur aufgeschrieben. Hinter den jungen Tänzer_innen ist der eiserne Vorhang hochgezogen, der Blick fällt in den Zuschauerraum der Großen Bühne mit seinen 999 Plätzen. Ein beindruckendes Szenario. Vor den Tanzenden: ein Kamerateam. Es filmt den ganzen Tag. Es zeichnet alles so auf, dass eine eigene Version der Choreografie entsteht, die als Tanz-Video auf der Projekt-Site Re:Rosas eingestellt wird.

Hier üben 60 Jugendliche, 11 bis 23 Jahre alt, Millennials, um die Jahrtausendwende Geborene, viele Mädchen und junge Frauen, ein paar Jungs und junge Männer – sie alle nehmen am Tanztreffen der Jugend der Berliner Festspiele teil, sie alle vereint eine gemeinsame Leidenschaft: tanzen.

Christina Schulz, Leiterin des Treffens, erzählt mir, dass die Festspiele das Tanztreffen ins Leben gerufen haben, da es bis zu seiner Gründung 2014 keinen Ort für Heranwachsende in Deutschland gab, an dem zeitgenössischer Tanz im Mittelpunkt stehe: „Also kein Ballett, kein Hip Hop, keine Standardtänze, kein Musical, kein … – zeitgenössisch!“, denke ich. Ein Katalog von Fragen rattert durch meinen Kopf. Ist die außergewöhnliche, minimalistische, in den 80er-Jahren entstandene Arbeit von Anne Teresa de Keersmaeker, die mittlerweile tradierter Teil der Tanz-Geschichte ist, für die Jugendlichen zeitgenössisch? Man kennt den Plagiatsvorwurf an den Popstar Beyoncé im Jahr 2011 – sicherlich motiviert die Idee des Tanz-Videos Heranwachsende, sich zeitgenössische Tanz-Kunst einzuverleiben, überlege ich anerkennend. Und dann schleicht sich ein kleines „Warum?“ ein. Was heißt zeitgenössisch für eine Generation, die wie keine andere von sich behaupten kann, dass sie die ‚zeitgenössische‘, die gegenwärtige sei? Zu Hause angekommen klick ich mich durch die derzeit aktuellen Top Ten auf YouTube: Songs von Ellie Goulding, Felix Jaehn, Sido, Sigala, Namika, Louane, Glasperlenspiel und Adele. Viel Tanz und Groove, viel Sex und Hips und Hipsters – vermarktete Jugendlichkeit oder quirlig lebendiges Zeugnis von Heute? Was heißt zeitgenössisch, wenn Jugendlichkeit und junge Körper ein gesamtgesellschaftliches Ideal sind und wenn, wie zum Beispiel auf der letzten Fashion Week in Berlin, man 16-Jährige Kleidung präsentieren lässt, die von Mittdreißigern gekauft wird?

(…)

Auf der Bühne bleibt während der ganzen Woche der Teenage Riot aus, es wird kein Stein geschmissen, keine Messerspitze in die Haut geritzt oder Körper gegen die Wand gedonnert, es gibt keinen Cyberspace oder digitalen Overflow, keine Texte gegen die Ohnmacht in Zeiten der Globalisierung und weltweiten Katastrophen. Stattdessen leise und intensive Töne über menschliche Sucht- und Sehnsuchts-Abgründe, über eine andere, offene, ohne gesellschaftlichen Druck funktionierende Wünsch-Wunder-Welt. Oder aber eklektischer Mediengebrauch, der eine zusammengestückelte Welt mit Bewegungen und Musik aus Film- und Musikwelt ergibt wie bei „Tabi“, einer Recherchearbeit zum Thema Japan vom Tanzhaus NRW Düsseldorf. Die Woche erstreckt sich vom Thema (körperliche) Identität, wie in „Selbstbaukasten“ der tjg.theaterakademie Dresden, über Kontakt in „Dritte Art“ des Tanzstudios Danzon in Tübingen bis hin zu im Raum angesiedelten, regelgeleiteten Improvisationen zu verschiedenen Energiezuständen in „Feuerblume“ der Kindertanzcompagnie Sasha Waltz & Guests. Alle beim Treffen gezeigten Arbeiten sind Stückentwicklungen. Auf der Bühne bleibt während der ganzen Woche der Flash Mob aus, keine Fernseh-Show-Parodie, kein Partizipationsspiel … es wird getanzt: auf der Bühne, es wird zugeschaut: im Zuschauerraum. Es wird frenetisch geklatscht. Und aftershow: wird kollegial gestritten und eine Menge Spaß gehabt.

Eigentlich ganz erschreckend: dunkle Stücke ohne Aufschrei – ist das nun doch die Ohnmacht, dass man noch nicht mal mehr schreien kann?

Diese Frage blitzt für einen Moment auf, als ich die letzte Aufführung in meiner Woche beim Tanztreffen zusammen mit meinen Töchtern und ihren Freunden sehe. Alle sind Anfang zwanzig, eine lustige Runde mit kanadischen, italienischen, kurdischen und rheinländischen Wurzeln. Meine Denke sei ihnen zu politisch, meinen sie. Sie selbst seien nicht unpolitisch. Für sie sei das alles eher eine Frage von Konsum, Ethik oder Lifestyle und nicht von einer zu verändernden Gesellschaftsordnung. Sie wollen nach ihren eigenen Vorstellungen leben. Sie sind noch verabredet, checken die Adresse von dem Club in Kreuzkölln aus – ich bleibe noch einen Moment bei einem Bier sitzen und schaue in die Runde, zu den Tischen, an denen die jungen Talente sitzen. Vielleicht macht genau diese Haltung sie zu heimlichen Revolutionären, die auf ihre Weise auch den Tanz verändern.

Dieser Text ist im Auftrag der Berliner Festspiele entstanden. Kompletter Text hier

© Gabi dan Droste, Januar 2016

BEWEGUNGEN Politik und Theater für junges Publikum

FORTFÜHRUNG DES TEXTES

DAS THEATER IN BEWEGUNGEN. POLITIK UND THEATER FÜR JUNGES PUBLIKUM

Theater und die anderen

Diese Debatte über Kunst, Politik und Gesellschaft, über das Verhältnis von Theater und Wirklichkeit gehört zum Theater wie das Amen in die Kirche. Der Dramaturg Ulf Schmidt hat dieses Spannungsverhältnis in ein schönes Bonmot gepackt: „Theater ist ein Ort der Gesellschaft in der Gesellschaft, an dem sich in Gesellschaft über Gesellschaft ästhetisch reflektieren lässt. …“ (Schmidt 2014). Oder wie es der große Theatertheoretiker Hans-Thies Lehmann ausdrückte: „Ein Ort der Versammlung, dem das Politische strukturell eingeschrieben ist.“ (Lehmann 2002) Die öffentliche Auseinandersetzung über Kunst und Politik wird jedoch zunehmend vehement geführt. Sie ist in der allgemeinen Kunstdebatte vor etwa sechs Jahren mit dem Beginn der politischen Umbruchsituationen beim arabischen Frühling, den Ereignissen auf dem Tahrir-Platz und bei der Occupy Bewegung wieder aufgeflackert. Hier wie auch in dem Gespräch mit Hardie und Khuon ging es vor allem um die Verortung von künstlerischer Praxis in Umbruchsituationen. Und zurzeit fragen deutschlandweit Theaterfestivals wie das Impulse Festival in NRW dezidiert: ‚Wie kann das Theater politisch sein?‘, die Dramaturgische Gesellschaft debattierte bei ihrer letzten Jahresversammlung in Berlin über ‚Was Tun. Politisches Handeln jetzt. Es gibt mehr und mehr Formate, bei denen politische Aktivist_innen und Künstler_innen kollaborieren wie bei the art of being many vorletztes Jahr auf Kampnagl. Die Schärfe der Auseinandersetzung zeigt die Dringlichkeit von neuen Ideen an. Die Handlungsfähigkeit zeitgenössischer Kunst steht zur Debatte.

Theater als soziales Labor

Auf dem Parkett des Kinder- und Jugendtheaters spricht Yvette Hardie. Sie berichtet über ihre Arbeit in Südafrika. Trotz einer der modernsten demokratischen Verfassungen in der Welt hat die multikulturelle Regenbogennation immer noch mit den Nachwirkungen des Apartheit-Regimes, mit massiven Gewaltproblemen und Ungleichheiten im Bildungssystem zu kämpfen. Ihre Kunstszene ist überaus lebendig, 43% der Bevölkerung ist unter 18 Jahre alt. Die Umbruchsituation in Südafrika ist keine aktuelle, sondern eine fortwährende. Der Wunsch, das Schwellenland zu einem friedvolleren und sozial ausgeglicheneren Zustand zu verhelfen, ist groß. Ziel ihrer Arbeit sei, so Yvette Hardie, Kindern den Zugang zu Kunst zu ermöglichen. Es sei eine politische Arbeit. Sie mache Theater, weil die Welt sehr dringend die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel brauche, und das Theater Reflexionsräume hierfür etabliere.

Zwei Giganten auf dem Podium, die eine aus Kapstadt, der andere aus Berlin – sie leben am jeweils anderen Ende der Welt, denke ich und bemerke beim Zuhören fasziniert ihre Gemeinsamkeiten: ihre Begeisterung für das Theater als soziale Kunstform, als Motor für gesellschaftliche Veränderungsprozesse. Theater eröffnet den Zugang zu einer größeren Welt als der eigenen, es eröffnet Phantasie- und damit alternative Möglichkeitsräume, meint die Weltpräsidentin. Es ginge darum, sich das (eigene) Leben anders vorstellen zu können und zu erkennen, dass es änderbar ist und dass man selbst in der Lage ist, es zu ändern. Teilhabe und Selbstwirksamkeit – Hardie beschreibt damit zwei Kernbegriffe gesellschaftlich wirksamer Arbeit mit künstlerischen Mitteln. Khuon spricht von ‚Erkenntnis gewinnen durch Kunst, die die Wirklichkeit verdichtet‘.

Theater als Marktplatz

Ulrich Khuon schildert die Ereignisse am DT im letzten Jahr: Die Mitarbeiter_innen sammeln Spendengelder für Geflüchtete, unterrichten sie in der deutschen Sprache, sie bieten Übernachtungsplätze im Theater an, halten Wache für die Beherbergten, schaffen Räume für den gemeinsamen internen Austausch, öffnen das Theater als Ort des Dialoges und rufen die Diskurs-Reihe ‚In welcher Gesellschaft wollen wir leben?‘ ins Leben. „Wir sind der Marktplatz, wo man Fragen stellen und seine Ängste ausdrücken darf.“ meint er. ‚Agora‘ geht mir durch den Kopf – die Agora (altgriechisch ἀγορά) war im antiken Griechenland der zentrale Fest-, Versammlungs- und Marktplatz einer Stadt, ein kennzeichnendes Merkmal der griechischen Polis und Veranstaltungsort für die Herausbildung einer gemeinsamen Identität. Khuons Schilderungen zeigen auf eindrückliche Weise die Strategien eines Theaters, das seinen Platz inmitten der (Stadt-)Gesellschaft als solidarische Gemeinschaft sieht.

Theater und der politische Körper

Die Südafrikanerin Jennie Reznek aus Kapstadt und Abdul Kinyenya aus Uganda arbeiten mit dem Körper, den sie als Mittel zur sozialen und gesellschaftlichen Veränderung einsetzen. Die eine mit Methoden des legendären französischen Pantomimen Jacques Lecoq, der andere mit Hip Hop. In Stuttgart zeigen beide auf, wie Tanz und Bewegung Menschen ein (Körper-)Vokabular geben, mit dem sie in direkte Kommunikation miteinander treten können unabhängig ihrer Sprache und eigenen kulturellen Prägung. Der Körper wird so zum politischen Körper. Reznek beschreibt diese Arbeitsweise als ein Geschenk, insbesondere da sie in der Post-Apartheit-Ära vor der Frage stehen, wie man zusammenkommt, als Ensemble und als multikulturelle Gesellschaft. Hip Hop ist zu einer globalen, weltumspannenden Sprache in der Welt avanciert.

Heutige moderne Gesellschaften sind multiple. Mir geht ein Aufsatz von Dorothea Hilliger, Universitätsprofessorin für performative Künste und Bildung, durch den Kopf, die schreibt, dass angesichts des multiplen Charakters heutiger Gesellschaften sich mit Deleuze und Guattari ausrufen ließe: ‚Hoch lebe das Viele (multiple)!‘ und sie führt aus: „Dies lässt sich so ausdeuten, dass es in einer pluralen Gesellschaft verschiedene parallel existierende und interagierende Handlungsformen, Sichtweisen, ‚Wahrheiten’ geben muss, die sich an den unterschiedlichen Subjekten festmachen lassen. Es lässt sich aber auch so verstehen, dass im künstlerischen ‚Umherirren’ im einzelnen Subjekt verschiedene Wahrheiten aufleuchten können, dass das Hybride, welches moderne Gesellschaften wie Subjekte kennzeichnet, hier erfahrbar wird.“ (Hilliger 2015)

An den zwei folgenden Abenden sehe ich zwei Inszenierungen für junges Publikum, die genau das zum Thema machen: Football on Stilettos (Kopergietery, Belgien) und Frühlingsweihe (Maas Theater, Niederlande) machen ‚das Viele‘ erfahrbar, provozieren die Blicke ihrer jungen Zuschauer_innen in ungewohnte Richtungen.

Das Theater und die Hybriden

Zum treibenden Sound von Joop van Brakel donnern minutenlang acht junge Menschen über einen Catwalk, so dicht an mir vorbei, dass ich die Luftbewegungen in meinem Gesicht spüre, die ihre kraftvoll gesetzten Schritte verursachen. Ich sitze abends neben anderen Zuschauer_innen in einem Arena ähnlichen Bühnenaufbau und wir schauen gebannt zu wie sich die acht jungen Körper im Inneren des Ovals anrempeln, auf den Boden werfen, wie sie flüchten und mit Blicken einander belauern. Gewalt liegt in der Luft. Eine zieht sich die Mütze vom Kopf und lässt ihr langes blondes Haar über die Schultern gleiten. Nach und nach entpuppt sich jede von ihnen als eine junge Frau. Sie tragen lange Abendkleider mit wallendem Haar, dann wieder kreischen sie, verschmieren Blut und jammern. Sie wetteifern um Anerkennung und üben sich im Authentisch-sein aber so wie die Gesellschaft es von ihnen verlangt. Frühlingsweihe zeigt tiefsinnige, kräftige Bilder von Weiblichkeiten und Zur-Frau-Werden; differenzierte, gegensätzliche Bilder, die ein vielfältiges und offenes Gesamtbild ergeben. Demokratie ist eine Arena, „wo Differenzen ausagiert werden können, ohne sie im Konsens befrieden zu müssen. Solche Arenen können Theater zumindest im Kleinen sein.“ meint der Kurator Florian Malzacher. (Malzacher 2016) Frühlingsweihe ist so eine.

 

Einen Abend später erlebe ich mit der Inszenierung Football on Stilettos das Pendant. Die Perfomer Rhandi Vlieghe und Jef van Gestel laufen nebeneinander in einer anscheinend immer gleichen Choreographie der Schritte, kleine Unterschiede in ihren individuellen Ausführungen der Bewegungen tauchen auf, der eine stopft sich einen Busen unter’s Hemd, der andere stöckelt auf hohen Schuhen daher. Dann tun sie tun das was ‚wahre Männer‘ tun: sie grillen und schmeißen im derben Outdoor-Look die Flex an. Im permanenten, immer wieder überraschenden Wechsel transformieren sie ihr Aussehen, ihre Körper und ihre Bewegungen, die zwischen männlich, weiblich und ‚dazwischen‘ mäandern und sich nicht eindeutig festlegen lassen wollen. Dann malt einer der beiden eine lange schwarze Linie auf eine weiße Wand – er trägt die Farbe mit seinem Kopf auf. Im Zuschauerraum ist es gespenstisch still. Unter dem Strich schreibt er mit großen, schwarzen Buchstaben: ‚It’s so easy to laugh and hate.‘ Und dann darüber: ‚It takes 1000 guts to be gentile and kind.“ Klare Aussage.

 

Das Theater des Vielen!

Football wie auch Frühlingsweihe operieren mit innovativen Erzählweisen und sind im hohen Maß politisch. Sie machen den Körper selbst zum Politikum, zeigen Varianten von (Körper-)Bildern einer komplexen Wirklichkeit. Sie tun dies mit einer umwerfenden Offenheit, ohne Bewertung aber mit einer klaren Haltung: Die Wirklichkeit ist divers und vielschichtig, alles ist eine Frage der Perspektive.

Zeitgenössische Theatermacher_innen in Deutschland debattieren im Moment wieder heftig über die Frage der Repräsentation auf der Bühne: Wenn Theater etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben will, dann müssen wir die Frage stellen: Wer (und folglich: aus welcher Perspektive) erzählt wem welche Geschichte und: wie? Das ist auch eine Machtfrage. Football und Frühlingsweihe bringen hybride Bilder von Menschen auf die Bühne, die gewöhnlich durch normative Setzungen aus sozialen Ordnungen und Machstrukturen ausgeschlossen oder an den Rand gedrängt werden. Sie drehen dabei aber den Spieß um. Sie sagen nicht: ‚Guckt mal, solche Leute gibt es ja auch noch!‘, sondern setzen die Vielfalt und die Freiheit im Ausdruck als gegeben auf die Bühne. Die ‚Anderen‘ sind die Zuschauenden, die herausgefordert werden, sich verhalten und die Ambiguität der Bilder aushalten zu müssen. Es gibt viele Wahrheiten. Bei denen auf der Bühne, und bei denen im Publikum.

Das Theater in Bewegungen.

Krisen können in Katastrophen enden. Der Evolutionsbiologe Jared Diamond wies nach, dass die Wikingerkultur in Grönland zusammenbrach, weil sie an der aus Dänemark bekannten und dort erfolgreichen Viehzucht festhielt, die aber das ökologische Gefüge in Grönland zerstörte. Und das obwohl „die Alternative, auf die Ernährung mit Fisch auszuweichen, buchstäblich direkt vor der Haustür lag.“ (Reiz 2015) Diese Kultur ist untergegangen, weil sie auf Gewohntes beharrte.

Krisen können das Potenzial haben, Neues hervorzubringen. Für unsere heutige Gesellschaft sind neue Wege unabdingbar zum Überleben. Es herrscht Konsens, dass der eingeschlagene Weg eine Sackgasse ist. Die ausgetrampelten Pfade sind bekannt. Vielleicht kann das Theater als Marktplatz in der Gesellschaft, auf dem das Viele von Vielen verhandelt wird, dazu beitragen, bislang unbekannte Lösungen in der Beweglichkeit und Bewegungen des Vielen zu suchen und zu entdecken.

© Gabi dan Droste, Juni 2016

Dieser Text ist als Reaktion auf meinen Besuch beim Festival ‚Schöne Aussicht‘ in Stuttgart entstanden, zu dem mich Brigitte Dethier und Christian Schönfelder als Beobachterin eingeladen hatten. Das Thema ‚Politik‘ stand im Zentrum und meine Kolleg_innen aus Südafrika und Belgien waren da – mindestens drei Gründen sich auf den Weg zu machen und sich an den Schreibtisch zu setzen.

TAKE A CHILD TO THEATRE TODAY. Residenz in Südafrika

EINFÜHRUNG DES TEXTES

TAKE A CHILD TO CHILDRENS‘ THEATRE TODAY

Das Obs Family Festival findet im März 2015 in einem ehemaligen Kirchengebäude in Observatory statt, einem ehemals ‚weißen Stadtteil‘. 25 Jahre nach Ende der Apartheit lebt dort eine leicht gemischte Community. Die die kleinen Häuser umgebenden Mauern sind mit Stacheldraht versehen, Hoftore werden via Fernsteuerungen in Gang gesetzt, Türen mit Code-Sicherheitssystemen geöffnet, jedes Haus wird von einem Hund bewacht. Man verbringt unendlich viel Zeit mit dem Öffnen und Schließen von Türen. Ein weiterer Spielort des Festivals ist das in den 70igern erbaute BAXTER Theater, das der hiesigen Universität angeschlossen ist. Das großzügige Gebäude mit drei Bühnen war ehemals Menschen mit weißer Hautfarbe vorbehalten; im März 2015 beherbergt es zum ersten Mal das ZABALAZA Festival, das rund 50 Produktionen von über 400 Künstler_innen aus 30 verschiedenen Gegenden, ausschließlich Townships, präsentiert. Es sind kraftvolle Arbeiten, die persönlichen Geschichten aus der Zeit der Sklaverei und Apartheit nachgehen, in denen Genderthemen (von Männern) offensiv debattiert und von verlorenen Träumen der black community erzählt wird. Kinder sind als Zuschauer_innen manchmal dabei; ein etwa 5-jähriges Kind sitzt auf dem Schoß seiner Begleitperson sitzt hinter mir in einer Aufführung über häusliche Gewalt durch den Ehemann; er spricht am Ende reuevoll von ‚lost dreams‘, von der Stagnation, in der er lebt.

 

Beim Obs Family Festival warten wir vor der Kirche auf einen zweiten Bus mit Kindern aus einem Township, die sich Einstein for beginners vom teater Petraska aus Dänemark anschauen wollen. Die Veranstalter spielen in einem Vorgarten mit den bereits angekommenen Kindern, reichen Trinkwasser. 1 ½ Stunde später kommt endlich der verspätete Bus, die Vorstellung beginnt. Einen Tag darauf kündigt sich überraschend ein Lehrer mit 200 Kindern an: er will in 2 Tagen kommen. Aber es ist keine Aufführung für diesen Zeitpunkt programmiert, das Theater hat Platz für vielleicht 120 Gäste. Die Veranstalter versuchen schnell einen passenden Aufführungsort für Produktion und Gäste zu organisieren. „Warum macht ihr das?“ frage ich die ASSITEJ-Mitarbeiter_innen. „Weil wir 200 Kindern die Möglichkeit geben wollen, ein Kindertheaterstück anzuschauen.“

 

Das Land der Kontraste

In Südafrika gibt es etwa 15 Theatergruppen, die sich ausschließlich dem Theater für Kinder widmen. 11 offizielle Sprachen werden gesprochen, die Stücke werden zumeist in mehreren Sprachen gespielt. Das Theater in seiner Gesamtheit speist sich aus vielen Kulturen. Schauspieler_innen und Tänzer_innen brillieren mit der Üppigkeit ihrer Erzähltradition und mit der einen in den Bann ziehenden Rhythmik des physischen Theaters sowie mit atemberaubend wundervollem Gesang. Dann sind wiederum deutlich europäische Sprechtheatertraditionen zu erleben, in anderen Stücken zeigt sich der Einfluss der von den NOGs entwickelten Praxis eines aufklärerisch-didaktischen Theaters: „Wir waren gefragt Stücke über Aids und Wasser zu machen. Die Kraft des Utopischen, der Fantasie … das war nicht gefragt. Wo sie geblieben ist? …“ meint Gerald Bester vom Hillbrow Theatre Project in Johannesburg.

 

Das Obs Family Festival zeigt all dies in seiner Widersprüchlichkeit und Ungleichzeitigkeit. Programmiert ist auch das wunderschön gespielte Nomvula (4+) von Thando Doni – ein Stück über Wasser. Der Verschmutzung des Planeten wird schließlich zusammen mit den (dazu animierten) jungen Zuschauer_innen ein Ende gesetzt.

 

Das Theater der Ungleichzeitigkeit

In Nelson Mandelas Biographie spiegelt sich die Geschichte (des schwarzen) Südafrikas. Jenine Collocott und Nick Warren schreiben über Mandelas Kindheit und fragen: ‚Wie wurde er zu dem was er war?‘ Collocott inszeniert ihre Geschichte als Erzähltheater mit drei Spieler_innen und verwendet Holzmasken für die Darstellung von Figuren. Das Stück liefert gerade für die nachwachsende Generation, die Mandela nur noch als Mythos (wenig) kennen, wichtige Informationen. Ihm zugrunde liegt aber auch die Frage: Was macht einen Menschen trotz aller Widrigkeiten zu einer so starken Persönlichkeit?

 

 

Konträr dazu steht Halbbread Technikque DIY / Post von Martin Schick, ein Stück ohne Schauspieler. Der 40-minütige Ablauf wird durch von Zuschauer_innen vorgelesene Spielanweisungen strukturiert, die der Autor in einem Paket zu Beginn der Performance auf die Bühne bringen lässt. Am Ende tanzt etwa die Hälfte des Publikums auf einem Viertel der Bühne, das für die Performance zur Verfügung stehende Geld ist an die Akteure verteilt worden. Im Anschluss folgt eine Diskussion mit der Kuratorin über Fragen wie: ‚Was kann man wie teilen?‘ und die klare Botschaft: ‚Bringt Teilen nicht das eigentlich Wesentliche den Menschen, nämlich (das) Glück (des Teilens)?‘ Den Macher_innen geht es um die kritische Debatte über Finanz- und Gesellschaftssysteme und den globalen Kapitalismus.

BRENT MEISTRE – Analogue Eye – Video Art Africa – „The war is over, but the dream of freedom is still existing.“

 

Fruit von Paul Noko sowie Secret Flames (UKAO / Sisipho Mbopa) (13+) thematisieren Vergewaltigung und Inzest. In beiden Stücken sind es Mädchen, die Gewalt erfahren und Männer, die sie ausführen. Beide Inszenierungen nehmen die Perspektive der Opfer ein, die ihre Geschichte – ohne die physische Anwesenheit der Täter auf der Bühne – selbst aufdecken. Die äußerst intensiven Darstellungen beziehen ihre Kraft völlig aus dem Spiel der Darstellerinnen. Sie erzählen mit Wort, Bewegung und Gesang vom Leid ihrer Figuren und ganz zum Schluss von deren festen Entschluss zu einem Aufbruch in eine (ungewisse) Zukunft.

In Lingua Franca (16+) spannen 10 jungen Künstler_innen – Mawande Manez Sobethwa, Ncedisa Jargon Mpemnyama, Lwanda Sindaphi and Mbongeni Nomkonwana, zum größeren Teil people of coloured – einen aufregenden Bogen zwischen tradierten und zeitgenössischen Formen afrikanischen Theaters, indem sie klanglich und textlich Slam-Poetry und traditionelles Liedgut kombinieren. Sie selbst verstehen sich als poetry movement, deren Mission es u.a. ist: „To speak against the injustices of this world. To contribute in making this country and continent better.“ In Lingua Franca brodelt der Unmut dieser jungen Generation über bestehende Verhältnisse in einem strengen Rhythmus und in der formalen Strenge ihres Setting.

Die junge Poetry-Texterin Koleka Putuma nimmt mit ihrer Gruppe Velvet Spine beim Festival Infecting the city satirisch die Gier junger Frauen sich um jeden Preis in den Medien produzieren zu wollen und die Vermarktungsstrategien des www und moderner Medien auf’s Korn. Ihre Absicht: „Yellow sunday (…) aiming to start a dialogue around how artists can utilise political material without censorship on the part of the artist, or defamation of the government.“

Die junge Künstlerin Joanna Evans zeigt in Patchwork (1-4) zeigt eine assoziative Geschichte rund um das Thema ‚Zu-Bett-Gehen‘. Diese Art der assoziativen Inszenierung, die mit Atmosphären und Sprachkürzeln arbeitet, ist in Südafrika völlig neu. Das gilt auch für die Inszenierungen Into the farytale (4-11), bei der die Besucher_innen blind durch einen Parcour geführt werden, und Pushmi Pulli (1-6) von Bulelani Mabutyana, in der von zwei Tänzerinnen gespieltes Doppelwesen die nicht trennbare Zweisamkeit mal verärgert und dann wieder freudig durchlebt.

 

In Südafrika ist die Theaterlandschaft für junges Publikum im Um- und Aufbruch, ihre Stücke erzählen von Gewalt, vom Traum und der Hoffnung auf … : die Regenbogennation. Im Hintergrund agiert Yvette Hardie, die vernetzt, konkrete Arbeitsmöglichkeiten für Künstler_innen fördert, Nachwuchskünstler_innen (und mich) mit Kindern im Township vor Ort arbeiten lässt, Textentwicklungen berät, Lehrer_innen bei einem Glas Wein vor deren Vorstellungsbesuch vom Wert des Theaters für Kinder überzeugt, Requisiten und ihre Gäste aus Europa von A nach B fährt. Sie mischt sich ein.

© Text wie Fotos  Gabi dan Droste

Residency in Kapstadt und Johannesburg (Südafrika) 2015 „Dance and Theatre for Young Audiences specialist, Gabi dan Droste paid our shores a visit on Thursday to host a workshop and discussion at the National School of the Arts. She spent a few days in Johannesburg engaging with the performing arts community and sharing some of her work and experience working in theatre and dance for young audiences in Germany and across Europe.“ (Yvette Hardie, President ASSITEJ SA and President International ASSITEJ)

Förderer der Residenz Goethe Institut Johannesburg, Magnet Theatre Cape Town, ASSITEJ South Africa

Eine gekürzte Fassung dieses Textes ist hier erschienen: Gabi dan Droste (2015): «Take a child to children’s theatre today. Theater für junges Publikum in Südafrika», In:
IXYPSILONZETT Magazin für Kinder- und Jugendtheater 10/2015, 18-19.

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